Erfolge von Nationalisten:Europa droht der Seelenschaden

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Marine Le Pen vom Front National präsentiert sich in Brüssel den Fotografen. (Foto: AFP)

"Der Nationalismus, das ist der Krieg", sagte einst der französische Präsident Mitterrand. Nach der Europawahl herrscht nun wieder ein gefährliches Klima der Entsolidarisierung. Wegen der Erfolge der Populisten ist Frankreich geschwächt und Großbritannien auf einem bizarren Sonderweg. Das macht Deutschlands Rolle in der EU noch schwieriger.

Ein Gastbeitrag von Joschka Fischer

Europa ist aus seinen Nationen gebaut, seit vielen Hundert Jahren. Das macht die Vereinigung des Kontinents auch jetzt zu einer so schwierigen politischen Aufgabe. Freilich ist der Nationalismus für Europa kein Konstruktionsprinzip mehr, sondern im Gegenteil sein Destruktionsprinzip.

Die verheerenden europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts wurden unter dem Banner des Nationalismus ausgefochten. François Mitterrand hatte völlig recht, als er in seiner bewegenden Abschiedsrede vor dem Europaparlament den Satz sagte, der die Summe seiner politischen Lebenserfahrung zusammenfasste: "Der Nationalismus, das ist der Krieg." In diesem Sommer 2014 begeht Europa den 100. Jahrestag des Beginns des 1. Weltkrieges, der Urkatastrophe, die Europa in den Abgrund nationalistischer moderner Kriege stürzen sollte, mit Millionen Toten. Und es erinnert sich auch an den 70. Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie, die den Zweiten Weltkrieg zugunsten der Freiheit Westeuropas und später, nach dem Ende des Kalten Krieges, auch ganz Europas entscheiden sollte. An den Küsten der Normandie wurde vor siebzig Jahren das nationalsozialistische Deutschland besiegt, das damals Europa mit militärischer Gewalt besetzt und unterdrückt hielt.

Und nun, knapp hundert Jahre nach jenem unseligen Juli 1914, scheint der Nationalismus gegen jegliche Vernunft wieder die Zukunftshoffnungen vieler Europäer auszudrücken, während das vereinte Europa, jener Garant des Völkerfriedens, als Last und Bedrohung angesehen wird. Dies ist die eigentliche, die dramatischste Niederlage Europas bei den jüngsten Europawahlen, die sich nicht allein in Zahlen und Prozenten ausdrückt. Wie konnte es so weit kommen?

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Klagen über die Wahlerfolge der Europagegner sind billig. Mit bloßen moralischen Appellen werden die großen Parteien den Verführern von Ukip, Front National und AfD nicht beikommen. Es ist an der Zeit, dass sie das rechtskonservative Politikmodell ernstnehmen - und sich der Komplexität Europas stellen.

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Würde man die Bedeutung der jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament ausschließlich daran messen, dass die überwiegende Mehrheit der Bürger proeuropäische Parteien gewählt hat, so würde man das Wesentliche an diesem Ergebnis verpassen: den dramatischen Zuwachs für europakritische, nationalistische Parteien in mehreren wichtigen Mitgliedstaaten, in Frankreich, Großbritannien, Dänemark, Österreich, Griechenland und Ungarn. Hält dieser Trend an, so wird er zur existenziellen Gefahr für die Europäische Union, weil er ihre dringende Weiterentwicklung blockieren und ihre Idee von innen heraus zerstören wird. Vor allem Frankreich gibt Anlass zu großer Sorge. Denn dort ist der Front National landesweit zur dritten politischen Kraft herangewachsen. "Frankreich erobern, Europa zerstören!" lautet nun das Ziel der Partei. Und der FN meint es damit ernst. Frankreich ist, gemeinsam mit Deutschland, für die Fortentwicklung der EU notwendig. Ohne Frankreich geht nichts in der EU.

Im Zentrum der durch die Europawahlen sichtbar gewordenen politischen Krise der EU steht die Wirtschafts- und Finanzkrise - vor allem in der Währungsunion. Mit ihren Folgen können offenbar weder die nationalen Regierungen noch die Institutionen der EU fertig werden. Diese Krise hat die Solidarität zwischen dem Norden und dem Süden in Europa zerstört und zu einem dramatischen Verteilungskonflikt geführt. Nicht mehr gleiche Mitglieder stehen sich gegenüber, sondern Schuldner und Gläubiger, deren Beziehung durch gegenseitiges Misstrauen bestimmt wird.

Die Seele der Union und des gesamten europäischen Projekts droht an diesem Verteilungskonflikt irreparablen Schaden zu nehmen. Der Norden wird durch Enteignungsängste geplagt, verursacht durch die Schuldenkrise. Der Süden befindet sich im Würgegriff einer beispiellosen sozialen Misere und Wirtschaftskrise; er sieht sich im Stich gelassen. Und die Hauptschuldigen für das Desaster scheinen im Norden zu sitzen, vor allem in Deutschland. Von dort kommt die Sparpolitik mit all ihren sozialen Folgen.

Joschka Fischer war von 1998 bis 2005 Außenminister in der rot-grünen Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder. (Foto: dpa)

In diesem Klima der Entsolidarisierung feiert der neue alte Nationalismus seine fast geschenkten Wahlsiege. Dort, wo die EU für den Absturz ganzer Mittelschichten verantwortlich gemacht werden kann, funktioniert eine Politik, die auf fremdenfeindlichen und nationalistischen Vorurteilen beruht. Europas Geschichte bietet dafür leider genügend Beispiele. Die Finanzkrise ist nicht überwunden. Sie wurde durch die Sparpolitik lediglich in den politischen Raum verdrängt, wie die Europawahl jetzt hat sichtbar werden lassen.

Frankreichs Rolle in der EU ist nun geschwächt, Großbritannien geht einen bizarren Sonderweg hin zum Austritt aus der EU - so wird Deutschlands Führungsrolle in Europa künftig noch mehr gefragt sein. Dies tut weder Deutschland noch der EU gut. Deutschland hat übrigens diese Rolle niemals selbst angestrebt. Sie hat sich einfach aus der Krise, aus der wirtschaftlichen Stärke des Landes und seiner institutionellen Stabilität ergeben.

Nichtsdestotrotz bleibt das Problem Deutschland bestehen, es ist ein großes Problem. Alle Europäer haben es quasi in ihren politischen Genen, dass sie jegliche Form von Hegemonie ablehnen - durchaus ja auch aus guten Gründen. Das gilt erst recht, wenn der mögliche Hegemon Deutschland heißt, seine eigene Geschichte mit sich herumträgt und für die Austeritätspolitik verantwortlich gemacht wird, was nur teilweise zutrifft, denn die hohe Staatsverschuldung in Teilen des europäischen Südens kann man nicht in Berlin abladen. Richtig ist natürlich, dass Deutschland unklugerweise drauf bestanden hat, Schuldenabbau und Strukturreformen gleichzeitig anzupacken und fast jegliche Form von wachstumsorientierter Politik in der Währungsunion abgelehnt hat. Zudem will man in allen politischen Lagern nicht begreifen, dass die Währungsunion auch ein "deutsches Problem" hat. Die deutsche Stärke, die Deutschland im Interesse des gesamten Projekts nicht wirklich vergemeinschaftet hat, ist Teil des Problems, das in den jüngsten Europawahlen sichtbar wurde.

Wie viel, das ist die spannende und entscheidende Frage, wird Deutschland nun bereit sein, für Frankreich zu tun, um Europa zu retten? Der Druck auf Angela Merkel und den Zentralbank-Präsidenten Mario Draghi wird auf jeden Fall erheblich zunehmen, und dieser wird nicht nur aus Paris kommen, sondern auch aus Rom und Athen und anderen Hauptstädten. Oder will man in Berlin abwarten, bis in den Krisenstaaten Regierungen an die Macht gewählt werden, die den Schuldendienst infrage stellen? In Griechenland kann man bereits das Menetekel an der Wand lesen. Für Europa wäre das aber die Katastrophe, und den Kurs in Berlin erst in einem solchen Fall zu ändern, wäre schlicht töricht.

© SZ vom 02.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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