Wer derzeit den Erfolg rechtspopulistischer und rechtskonservativer Parteien bei der Europawahl betrauert, insbesondere den Erfolg der Ukip in Großbritannien und den erdrutschartigen Sieg des Front National in Frankreich, vergießt Krokodilstränen. Es ist wohlfeil, die unappetitliche Verbindung von revolutionärem Gestus und nationalistischer Gesinnung zu verurteilen - man kann sich damit zumindest auf der richtigen Seite wiederfinden.
Aber es ist an der Zeit, das rechtskonservative Politikmodell ernst zu nehmen. Denn seine Verhöhnung als Populismus gibt deren Wahlerfolg nur Recht, setzen diese Parteien doch auf eine vermeintliche vox populi.
Was aber heißt es, den Rechtspopulismus ernst zu nehmen? Es heißt selbstverständlich nicht, Verständnis für eine neonationalistische und neorassistische Idee der politischen Integration zu haben. Es heißt auch nicht, den Vorurteilen einer überbordenden Euro-Bürokratie und einer Enteignung der Nationalstaaten das Wort zu reden. Es heißt aber ernst zu nehmen, dass die Wahl solcher Parteien durchaus einer politischen Logik folgt.
Ein Parlament braucht eine Opposition
Diese Logik kann man nur verstehen, wenn man sich für den Konstruktionsfehler interessiert, der in der Diskussion um den neuen Kommissionspräsidenten direkt nach der Wahl nur zu offensichtlich geworden ist. Noch bevor das neue Parlament sich konstituiert hat, ist es letztlich von den europäischen Regierungschefs entmachtet und lächerlich gemacht worden. Das europäische Parlament ist eben kein Parlament, das den üblichen Regeln folgt, die den westlichen Parlamentarismus ausmachen.
Ein Parlament braucht eine Opposition, die der Regierung als potenzielle Regierung gegenübertritt. In Europa aber wird die Regierung in Gestalt der Europäischen Kommission weder vom Parlament gewählt noch angemessen kontrolliert, weil die entscheidenden Akteure hier die nationalen Regierungschefs sind. Die Aufstellung von Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten hat sich als bloßes Theater herausgestellt - Symbolpolitik, die freilich ungewollt die operative Distanz zwischen europäischer Legislative und europäischer Exekutive symbolisierte.
Was hat das mit dem Erfolg der rechtskonservativen populistischen Parteien zu tun? Ein Effekt des Konstruktionsfehlers in Europa ist nicht nur die Kastration der Kontrollmöglichkeiten der Europäischen Kommission durch das Parlament, sondern auch die Funktionslosigkeit der Opposition innerhalb des Parlaments. Denn stellt diese Opposition nicht wenigstens potenziell eine Alternative zur Regierung dar, so bleibt sie unsichtbar und verhindert die Ausbildung einer so oft beschworenen europäischen politischen Öffentlichkeit.
Wegen dieses Konstruktionsfehlers, der von den nationalen Regierungen sorgsam gehütet wird, gibt es wenig Opposition innerhalb des europäischen politischen Systems, dafür aber viel Opposition gegen Europa. Diese Stelle besetzen Rechtspopulisten. Sie bieten sehr einfache Lösungen an, die man schon im Namen wiederfindet: eine Unabhängigkeitspartei in Großbritannien, eine nationale Front in Frankreich!
Es werden einfache Lösungen für komplexe Probleme angeboten - mit der altbewährten Idee, durch nationale, ethnische, sogar rassische Homogenität von Gesellschaften kollektive Probleme lösen zu können. Dieser Mechanismus ist bekannt - und der europäische Konstruktionsfehler ist geradezu ein Geschenk für diese Parteien.
Den Erfolg dieser Parteien ernst zu nehmen, macht auch sichtbar, dass die alten Routinen der Politik mit ihren eingefahrenen Konfliktlinien nicht mehr greifen. Vielleicht bleibt Politik angesichts großer Komplexitätsprobleme einer transnational verwobenen Gemengelage von politischen, ökonomischen und kulturellen Wechselseitigkeiten und Abhängigkeiten heute kaum mehr etwas anderes übrig, als eine Adresse für Forderungen zu sein, die sie eigentlich nicht erfüllen kann.
Paradoxerweise scheinen gleichzeitig die Erwartungen an politische Lösungen sehr groß zu sein - warum sonst gäbe es Protestwähler, die sich offensichtlich nach sehr einfachen Lösungen sehnen? Als Programm von Marine Le Pen reicht schon das Versprechen, Politik "von Franzosen, für Franzosen, mit Franzosen" zu machen. Und selbst, wenn man versuchsweise annehmen wollte, die AfD habe zunächst nur ihre allzu einfache Wirtschaftspolitik im Blick gehabt, so musste sie geradezu ein Magnet für rechtspopulistische Töne werden. So unappetitlich und unerträglich diese auch sind, so sehr folgt dies durchaus einer inneren Logik.
Vielleicht sind die Rechtspopulisten im Europaparlament eine Chance
Europa-Enthusiasten fällt als Kritik des Rechtspopulismus fast nur eines ein: ein moralisches kosmopolitisches Bekenntnis zu Europa, eine normative Idee der europäischen Integration und der Appell an Solidarität. Diese Argumente kann man in den gebildeten Ständen mit der ihnen eigenen Romantik für richtig halten - nur sehen sie nicht, dass sie bloß feindliche Geschwister vom gleichen Stamm sind.
Es werden Bekenntnisse für Europa gegen die Bekenntnisse zur Nation und dem Eigenen gesetzt. Darin sind sich Rechtspopulisten und, ja, man muss sie so nennen: die Europa-Populisten wirklich einig.
Es gibt eine große politische Tradition, in Begriffen von kollektiven Solidaritäten und Bekenntnissen zu denken, in Form des Appells an den guten Willen und das richtige Motiv - von rechts und von links. Es gibt aber wenige Narrative, welche die Komplexität und Schnelligkeit dieser Gesellschaft, ihre Perspektivendifferenz und Verwobenheit, ihre Gleichzeitigkeit und Vielschichtigkeit auf politische Begriffe bringt. Vielleicht muss sich Politik dazu zwingen, sowohl das Einfache (Nationalismus) als auch das Alternativlose (Euro-Moralismus) zu vermeiden.
Insofern sind die Rechtspopulisten im Europaparlament vielleicht eine Chance, indem sie wenigstens die großen Parteien dazu zwingen, sich der Komplexität Europas zu stellen und selbst Alternativen zueinander zu entwickeln. Erst dann kann die Politik lernen, was sie in einer komplexen Gesellschaft vermag - und was nicht. Mit dem bloßen moralischen Appell für ein übernationales Europa macht man sich den rechten Kritikern nur allzu ähnlich.
Hoffen wir also, dass das Parlament nun tut, was ein Parlament tun muss: parlieren, laut, sichtbar, kontrovers; nicht Land gegen Land, sondern Alternative gegen Alternative. Der Wärmetod der europäischen Politik kann nur durch die Zufuhr von Alternativen vermieden werden. Dies allein ist noch keine Lösung, aber wenigstens die Bedingung dafür, dass alternative Lösungen sichtbar werden - und damit einen Unterschied aufzeigen.