Das Politische Buch:Prophet einer neuen Linken

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Anführer der Massen: Enrico Berlinguer auf einer Versammlung mit 30 000 Menschen in Mailand im Jahr 1976. (Foto: Imago)

Am 25. September wählt Italien ein neues Parlament, die extremen Rechten könnten triumphieren. Da ist es Trost und Labsal, die Biografie des engagierten Kommunisten, Demokraten und Europäers Enrico Berlinguer von Chiara Valentini zu lesen. Sie zeigt, wie Italien auch einmal war und wie es heute sein könnte.

Von Birgit M. Kraatz

Am 25. September wählen die Italiener ein neues Parlament. Aber was bedeutet das schon in populistischen Zeiten in einem leichtsinnigen Land (68 Nachkriegsregierungen), in dem Politik schräg und zeitweise verrucht wie im Reich Mackie Messers betrieben wird. Komiker, Schwindler, Clowns, Marktschreier und Betrüger haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Politik am Tiber breitgemacht. Sogar Mario Draghi, den kompetenten, klugen Euro-Retter, jagen sie nun aus dem Palazzo Chigi.

In Rom steht eine Zeitenwende vor der Tür. Etwa 80 Jahre nach dem Sturz Mussolinis wird die poppige Neofaschistin Giorgia Meloni die Wahl gewinnen und Italiens erste weibliche Ministerpräsidentin werden, sagen die meisten Umfragen voraus. Die Regierungserfahrung der alleinerziehenden Mutter beschränkt sich auf drei Jahre Jugendministerium (ohne Portefeuille) im vierten Kabinett Berlusconi.

Der Titel "Der eigenartige Genosse" trifft es genau

Es ist Trost, Labsal und intellektuelles Vergnügen zugleich, vor dem Hintergrund dieser aufgeputschten Jahrmarktstimmung die erste Biografie in deutscher Sprache des italienischen Kommunistenführers Enrico Berlinguer zu lesen. Sie ist in diesem Sommer aus Anlass seines 100. Geburtstags erschienen und trägt den passenden Titel "Der eigenartige Genosse. Kommunist und Demokrat im Nachkriegseuropa". Das dicht recherchierte und lebendig geschriebene Buch über den legendären KPI-Chef und engagierten Europäer aus der Feder der renommierten italienischen Journalistin Chiara Valentini ( Espresso, Panorama) erzählt sehr detailreich die faszinierende Geschichte eines aristokratischen Kommunisten und charismatischen Demokraten, der mit seinen politischen Initiativen zum Thema Eurokommunismus, dem Bruch mit Moskau, der großen Koalition mit den Christdemokraten ("compromesso storico"), der "moralischen Frage" und seinem frühen dramatischen Tod vor laufenden Fernsehkameras Zeitgeschichte schrieb.

"Wir müssen Konservative und Revolutionäre sein."

Im sardischen Sassari als ältester Sohn einer angesehenen, antifaschistischen Adelsfamilie geboren, wurde der kleine vornehme Mann mit dem melancholischen Blick eine interessante Schlüsselfigur der politischen Nachkriegsgeschichte Italiens und Europas. Von 1972 bis 1984 war er Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, der größten in einem westlichen Land, und gehasster Rebell in Moskau.

"Wir müssen Konservative und Revolutionäre sein", erschreckte Berlinguer seine eigenen Parteigenossen nach seiner Wahl zum KPI-Generalsekretär. Zunächst hielt er an der Freundschaft mit der Sowjetunion und an der Bewunderung für Stalin fest. Aber bei keinem seiner Auftritte in Moskau, selbst in jungen Jahren, sparte das "Bürgersöhnchen" mit antisowjetischer Kritik.

Für Enrico Berlinguer (1922-1984) zählte sein Land mehr als seine Partei. Bei Hardcore-Kommunisten kommt so etwas gar nicht gut an. (Foto: Imago/Milestone Media)

Schon als Anführer des kommunistischen Weltjugendverbandes Anfang der 1950er-Jahre sagte er Breschnews Apparatschiks ins Gesicht, dass "Demokratie ein universeller Wert" sei. Auf der Konferenz aller Arbeiter- und kommunistischen Parteien 1969 in Moskau mahnte er vor 6000 Delegierten aus aller Welt, es dürfe nicht nur "das eine sowjetische Modell für eine sozialistische Gesellschaft" geben. Selbstbewusst fügte er hinzu, der italienische Weg zum Sozialismus führe über "Demokratie und Pluralismus".

Terror und Mord im ganzen Land

Bei den italienischen Regionalwahlen 1975 geschah genau das: In Rom, Mailand, Turin, Florenz, Venedig, Neapel, Genua und Bologna und in weiteren 1735 Gemeinden zogen kommunistische Bürgermeister in die Rathäuser ein. Eine neue Demokratie schien zu erwachen. Aber die nur knapp überlegene Democrazia Cristiana schloss eine nationale Regierungsbeteiligung der Kommunisten weiter kategorisch aus, obwohl das gespaltene Land nahezu unregierbar geworden war. Nach dem faschistischen Attentat auf die Mailänder Landwirtschaftsbank 1969 mit fast 100 Toten tobte zunächst der rechte, dann der linke Terrorismus. Züge, Bahnhöfe, Menschen wurden in die Luft gesprengt. Industrielle, Manager und deren Kinder entführt oder angeschossen. Hunderte unschuldige Opfer ließen damals ihr Leben. Die schlingernde Blutspur erreichte mit der Entführung des christdemokratischen Regierungschefs Aldo Moro, seiner Erschießung und der seiner Eskorte durch die Roten Brigaden ihren Höhepunkt.

Roter Terror in Rom: Das Kidnapping und die Ermordung von Aldo Moro erschütterten Italien im Jahr 1978. (Foto: AFP)

Der militärisch organisierte Anschlag kam einem politischen Putschversuch gleich. Moro hatte vor seiner Entführung monatelang mit Berlinguer über eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten geheim verhandelt, obwohl die US-Regierung und die CIA entschieden dagegen opponierten.

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Dennoch stellte sich die KPI in der Stunde der Trauer schützend und geschlossen vor den verletzten Staat. Ohne diese entschiedene Hilfe, Solidarität und Abgrenzung von den Terroristen, die ihre verlorenen Kinder waren, hätte die Republik diesen blutigen Sturm nicht überlebt.

Politik als Spektakel verabscheute er

Berlinguer, mit der Katholikin und erklärten "Nichtkommunistin" Laetitia Laurenti glücklich verheiratet und liebevoller Vater von drei Kindern, lebte seine Macht asketisch. Häufig arbeitete er bis tief in die Nacht. Er verschlang Berge von Büchern. Seine Reden schrieb er nachts mit der Hand und redete mit den unterschiedlichsten Menschen. "Ein Kommunist", sagte er einmal, müsse die eigenen Überzeugungen und das eigene Denken ständig überprüfen und "auf der Basis von Fakten und historischem Wissen" analysieren, wenn seine Taten "Auswirkungen auf die Fakten" haben sollten. Dieses Ziel verlor Berlinguer nie aus den Augen.

Politik als Spektakel verachtete er. Höflich, nachdenklich und immer gut vorbereitet näherte er sich den Themen, die er - in seiner Partei, mit seinen innen- und außenpolitischen Gegnern - entwickeln und anstoßen wollte. Einen Koloss wie die KPI aus ihren ideologischen Fesseln zu lösen, zu modernisieren und auf eine transparente und demokratische Grundlage zu stellen, war sein kräftezehrendes Lebenswerk. Seine Vision, auch Europas kommunistische Parteien durch den gemeinsamen Dialog zu öffnen, legten die KPdSU-Ideologen als "dritte Häresie" (nach Tito und Mao) aus. Das war lebensgefährlich. In Sofia entging der Sarde 1973 um Haaresbreite einem tödlichen Anschlag. Trotzdem wich er nicht zurück. Nach seiner flammenden Rede auf dem XXV. Parteitag der KPdSU in Moskau wurde er zum persönlichen Gespräch mit dem Vorsitzenden Breschnew zitiert. Berlinguer nutzte die Gelegenheit und sprach unerschrocken auch das Tabuthema der Stunde, die Sache des Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow, an. "Die italienische Rebellion erschüttert den Kreml", titelte beeindruckt der englische Guardian hinterher.

Ziemlich untypisch und in Moskau ungeliebt: Enrico Berlinguer als Chef der Kommunistischen Partei Italiens. (Foto: Sven Simon/Imago)

Das geteilte Deutschland blickte mit besonderem Interesse gebannt nach Rom. Die KPI hatte die Ostpolitik Willy Brandts von Anfang an unterstützt. Seit 1973 reisten neugierige SPD-Größen wie der ehemalige Kanzleramtschefchef Horst Ehmke im Auftrag Willy Brandts zu Sondierungsgesprächen in die ewige Stadt. Die SPD zeigte sich von dem "qualitativen Sprung" wie Ehmke Berlinguers Abrücken von Moskau nannte, fasziniert. Die theoretische und praktische Öffnung der KPI stärke die italienische Demokratie, hatte sie doch (zusammen mit Katholiken, Sozialisten und Republikanern in der Resistenza) entscheidend auch zum Sieg über den italienischen Faschismus beigetragen. Die "Diktatur des Proletariats" begrub die KPI schon 1944 mit Togliattis "Wende von Salerno". Mit der Kraft ihrer Bewegung würde sie, hoffte man in der Baracke, auch auf eine "neue Geschlossenheit der jahrzehntelang gespaltenen europäischen Arbeiterbewegung" (Ehmke) hinwirken.

Sozialisten aus aller Welt zeigten sich begeistert

Enrico Berlinguer war ein selbstloser, integrer Mann und zäher, kluger Kämpfer. Es ging ihm um das Gemeinwohl, sein Land zählte für ihn mehr als seine Partei. Sein starker Wille für Freiheit und Gerechtigkeit war in seiner rebellischen Jugend mit den Brotaufständen und im Austausch mit seinen schuftenden Arbeiterfreunden in Sassari gereift. Die Faschisten steckte ihn für seine Teilnahme an den Brotaufständen 100 Tage ins Gefängnis, aber auch die eigene Partei strafte ihn ab, warf ihn aus der Parteispitze, versetzte ihn zurück nach Sassari, weil er bei einer dramatischen Sitzung der Parteiführung zur sowjetischen Repression in Budapest während des Ungarnaufstandes als jüngstes und einziges Parteimitglied für die ungarischen Aufständischen Partei ergriffen hatte.

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Berlinguer wusste, dass er seine Partei nur mit auf die Reise in eine moderne Zukunft nehmen konnte, wenn er auf die Mitte der Gesellschaft zuging. Mit dieser bürgerlichen Mitte musste und wollte er direkt kommunizieren. Die bürgerliche Presse im In- und Ausland war für ihn ein wichtigeres Instrument als die Parteiorgane Rinascita und Unità. Kein kommunistischer Parteisekretär hat vor Berlinguer so gezielt und taktisch geschickt mit Exklusivinterviews seine Kursänderungen in eine breite Öffentlichkeit lanciert. Seine exklusiven Gespräche mit Le Monde, dem Corriere della Sera und dem Spiegel halfen ihm auch, langwierige Abstimmungen in seiner Partei abzukürzen. Die sich jahrelang hinziehende Auseinandersetzung in der KPI, ob Italien bei einem möglichen Wahlsieg der Kommunisten über die Christdemokraten in der Nato bleiben würde, fegte er am Vorabend der politischen Wahlen 1979 vom Tisch, als er in seinem berühmten Interview mit dem Corriere della Sera erklärte: "Ich will nicht, dass Italien aus dem Atlantischen Bündnis ausschert. Ich fühle mich sicher, wenn es da bleibt, wo es ist." Auch 1981 nach dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan und dem verhängten Kriegsrecht in Polen riskierte Berlinguer kurz die Einheit seiner Partei, als er in einer Pressekonferenz vor laufenden Fernsehkameras erklärte "Die revolutionäre Stoßkraft der Oktober-Revolution hat sich erschöpft." "Lo strappo", der Riss, die endgültige Trennung von Moskau war vollbracht.

Was bleibt von linker Größe?

Bittere Feindschaft schlug ihm jetzt aus der kommunistischen Welt entgegen, aber auch viel Zuspruch und Bewunderung aus anderen Teilen der Welt. Berlinguer suchte das Gespräch mit den Sozialisten und Sozialdemokraten. Willy Brandt, Olaf Palme, Bruno Kreisky, Felipe Gonzáles und François Mitterrand. "Ausgerechnet er, der Erfinder der großen Koalition zwischen Christdemokraten und Kommunisten, die durch den Mord an Aldo Moro jäh zerbrach", schreibt Chiara Valentini "wird am Ende seines Lebens zum Propheten einer neuen ökologischen, pazifistischen und feministischen Linken, die sich ihrer Herkunft und ihrer moralischen Verpflichtungen bewusst ist."

Chiara Valentini: Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer. Kommunist und Demokrat im Nachkriegseuropa. Aus dem Italienischen übersetzt von Klaus Pumberger, Cristiana Dondi und Andrea Bertazzoni. JHW Dietz Nf., Bonn 2022. 480 Seiten, 32 Euro. (Foto: Dietz)

Wird sie sein Erbe bewahren und somit den in einigen Ländern zunehmenden Rechtsruck verhindern können? In jedem Fall legt dieses spannende Buch (lobenswert auch die reichen Fußnoten, Zeittabellen und Glossars) Zeugnis davon ab, mit welch eigenwilliger Größe und Gestaltungskraft eine gewisse linke Elite Politik gelebt hat.

Birgit M. Kraatz war drei Jahrzehnte lang Korrespondentin deutscher Medien (ZDF, Stern, Der Spiegel) in Italien.

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