Wenn Yamina Saheb über den Energiecharta-Vertrag spricht, kommt sie kaum zum Luftholen, so schnell fliegen die Wörter aus dem Mund. Die Dringlichkeit ist aus Sahebs Sicht hoch. Vor nicht allzu langer Zeit war die promovierte Energietechnikerin aus Paris angestellt, um für das Abkommen zwischen 51 Ländern in Europa und Asien zu werben. Doch inzwischen versucht sie, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, was hier auf dem Spiel steht. "Es ist unglaublich, dass wir in so einen Schlamassel geraten sind", sagt sie. Die Länder der Europäischen Union müssten raus aus diesem Vertrag, sonst könnten sie ihre Klimaziele vergessen.
Inzwischen haben sich Dutzende Nichtregierungsorganisationen, Hunderte Wissenschaftler und mehr als 250 Mitglieder des Europäischen Parlaments dieser Forderung angeschlossen. Die Energiecharta (englisch: Energy Charter Treaty, ECT) ist einer von weltweit unzähligen Handelsverträgen und ein Mahnmal dafür, welche Stolpersteine auf dem Weg in eine klimaneutrale Welt warten können. Initiiert wurde der ECT auch von Deutschland Anfang der Neunzigerjahre, um privatwirtschaftliche Investitionen im Energiesektor zu schützen. Das zielte anfangs vor allem auf Länder, die aus der zerbröckelnden Sowjetunion hervorgegangen waren. Die Furcht vor politischer Instabilität war groß, Unternehmen sollten vor Enteignungen und unfairen Wettbewerbsnachteilen geschützt werden. Fühlen sie sich benachteiligt, können sie vor internationalen Schiedsgerichten auf Schadenersatz klagen. Laut ECT können sie dabei nicht nur Kosten geltend machen, die bereits entstanden sind, sondern auch mutmaßlich entgangene Gewinne.
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Im größten bisherigen ECT-Fall ging es um den russischen Erdölgiganten Yukos. Mit Unterstützung des Staates wurde Yukos Anfang der 2000er-Jahre zerschlagen. Aktionäre klagten vor dem Schiedsgericht in Den Haag, das nach zehn Jahren Prozessverlauf Russland zu 37,2 Milliarden Euro Schadenersatz verurteilte. Seither wehrt sich Russland gegen das Urteil, es ist noch nicht vollstreckt. Deutschland ist konfrontiert mit einer Klage der schwedischen Firma Vattenfall aufgrund des Atomausstiegs, der Streitwert soll bei 4,7 Milliarden Euro liegen. Nach fast zehn Jahren steht die Entscheidung aus. Allein die Prozesskosten gehen in die Millionen. Da die Verfahren an den Schiedsgerichten vertraulich sind, dringt kaum etwas nach außen.
Ausstoß an Treibhausgasen über dem Vorjahresniveau
Yamina Saheb nahm 2019 eine Stelle im Sekretariat des ECT in Brüssel an. Sie sollte zunächst prüfen, ob der Vertrag mit dem Pariser Klimaabkommen in Einklang zu bringen ist. Ihre Antwort lautet: Nein. Wie sehr hier die Zeit drängt, zeigt eine Nachricht der Internationalen Energieagentur IEA am Dienstag, wonach der weitweite Ausstoß an Treibhausgasen trotz der Corona-Krise bereits wieder ansteige. Demnach lagen die Werte im Dezember 2020 um zwei Prozent höher als ein Jahr zuvor und klettern weiter.
Die Reduktion der Kohlendioxid-Emissionen kann nur gelingen, wenn die Ausbeutung der fossilen Brennstoffe Öl, Kohle und Gas begrenzt und wohl irgendwann gestoppt wird. Sollten sich Unternehmen auf die Energiecharta berufen, könnten sich Strafzahlungen für die Steuerzahler auf potenziell Hunderte Milliarden Euro summieren, wie zuletzt eine Recherche des Journalistenverbunds Investigate Europe ergab. Als Bömbchen wider den Klimaschutz gilt die sogenannte "Sunset-Klausel". Sie besagt, dass der Investorenschutz selbst bei dem Austritt eines Landes weitere 20 Jahre lang gilt.
Klagen zu fossilen Brennstoffen sind bereits anhängig. So ging der britische Ölkonzern Rockhopper gegen Italien vor aufgrund verweigerter Bohrungen vor der Küste der Region Abbruzzen. Gazprom rief das Schiedsgericht an gegen die EU im Zuge der Gasleitung Nord Stream 2. Zuletzt klagte der deutsche Energiekonzern RWE gegen die Niederlande, weil diese den Kohleausstieg auf 2030 ansetzten - es soll um 1,4 Milliarden Euro gehen.
Saheb verließ nach wenigen Monaten das ECT-Sekretariat und wandte sich an die Politik. Dabei stellte sie fest: "Kaum jemand wusste, wie er funktioniert, es gab eine gewisse Wissenslücke." Inzwischen hat sich der Inhalt herumgesprochen, seit Juni bereits ringen die Staaten um eine Änderung des Textes. Zur vierten Verhandlungsrunde in dieser Woche in Brüssel deuten sich verhärtete Fronten an.
Die EU-Kommission hat im Auftrag der Mitgliedsländer vor zwei Wochen den Vorschlag vorgelegt, künftige Investitionen in Erdöl, Kohle und Gas weitgehend aus dem Vertrag zu nehmen. Investitionen etwa in erneuerbare Energien oder in Wasserstoff-Technologie sollen geschützt bleiben. Die deutsche Regierung schließt sich diesem Plan an. "Deutschland hat ein großes Interesse an der Modernisierung des Energiecharta-Vertrages", erklärt das Bundeswirtschaftsministerium. Er könne ein zentrales Argument sein für Investoren, die Energiewende voranzutreiben. Allerdings müssten "Präzisierungen erfolgen, um das das Risiko für missbräuchliche Klagen bestmöglich zu senken". Ob das gelingt, erscheint Beobachtern fraglich.
Grüne fordern von der EU einen Plan B
"Ich bin nicht sehr optimistisch", erklärt Luxemburgs Energieminister Claude Turmes. Denn eine Änderung des ECT ist nur einstimmig durchzusetzen. Immerhin, so Turmes, sei nun der Scheinwerfer auf die Verhandlungen in dieser Woche gerichtet, der öffentliche Druck werde größer. Doch die EU sei eben nicht der einzige Akteur. Erdöl exportierende Staaten wie Turkmenistan oder Kasachstan oder die Schwergewichte Japan und Großbritannien stünden auf der Bremse. Turmes prognostiziert, dass in dieser Woche in Brüssel Tag und Nacht verhandelt werde. Und falls die Gespräche scheitern? "Dann bleibt der Vertrag, wie er ist", sagt Turmes.
Dann dürfte der Druck in der EU steigen, selbst einen Ausweg zu finden. Anna Cavazzini leitet eine Beobachtergruppe zu den ECT-Verhandlungen im Handelsausschuss des Europaparlaments und fordert, dass die EU dringend an einem Plan B arbeiten müsse. Nach Einschätzung der Grünen-Abgeordneten kann dies nur der Austritt aller EU-Länder sein mit einer Zusatzvereinbarung, Klagen innerhalb des Staatenbundes aufgrund der Sunset-Klausel zu verbieten. Das könnte zumindest die Zahl kostspieliger Klagen reduzieren, derzeit betreffen 60 Prozent aller Verfahren ausschließlich EU-Länder. Luxemburg, Österreich, Frankreich und Spanien tendieren in diese Richtung. Allerdings sollte dann zumindest noch die Schweiz zum Austritt überredet werden, weil dort einige Konzerne ihren Sitz haben. Eventuell könnte den Kritikern des ECT zudem eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof helfen, in der Hoffnung, dass der Vertrag EU-Recht widerspricht. Für Anna Cavazzini ist der ECT ein Beispiel dafür, wie stark Handelsabkommen den Aktionsradius von Politik einschränken könnten. Dabei dränge in der Klimakrise die Zeit. Sie sagt: "Dieser Vertrag ist ein ganz schön dickes Brett zu bohren."