Aufstände und Demonstrationen:Der arabische Herbststurm wird an Europas Grundfesten rütteln

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Demonstrierende auf dem Märtyrerplatz in Libanons Hauptstadt Beirut. (Foto: dpa)

Libanon, Irak, Algerien - zu Tausenden gehen die Menschen auf die Straße und fordern ein Leben in Würde. Bleibt ihnen das verwehrt, wird das gravierende Folgen für die EU haben.

Kommentar von Paul-Anton Krüger

Es fegt ein Herbststurm durch die arabische Welt, der nach einem längst vergangenen Frühling riecht. Eine neue Welle von Aufständen erschüttert die Region. In Libanon war ein Viertel der Bevölkerung ungeachtet aller konfessionellen Trennlinien auf der Straße, und die Demonstranten bejubeln nun den Rücktritt von Premier Saad al-Hariri. Im Irak ist der Sturz von Regierungschef Adil Abdul Mahdi eine Frage der Zeit, aber auch hier beschwören die Wütenden die Einheit des Volkes und skandieren: "Wir sind alle Iraker!" In Algerien, wo Massenproteste schon dem Regime des greisen Staatschefs Abdelaziz Bouteflika ein Ende bereitet haben, gehen die Menschen weiter freitags auf die Straße. Und in Kairo tun sie das nur deshalb nicht mehr, weil der Polizeistaat von Präsident Abdel Fattah al- Sisi willkürlich Tausende verhaften ließ.

So verschieden diese Länder sind, so wenig sich die Proteste aufeinander beziehen (anders als während der Revolutionen von 2011) - es gibt doch Grundlegendes, was sie verbindet. Genau darauf muss Europa nun schauen und seine Schlüsse für die Politik gegenüber dieser Region ziehen. Denn die Folgen der noch nicht absehbaren Verwerfungen werden sich maßgeblich auch hier auswirken.

Auf dem Märtyrerplatz von Beirut herrscht Volksfeststimmung, über den Tahrir in Bagdad schallt auf Arabisch umgeschrieben das Protestlied "Bella Ciao". Es ist der ursprüngliche Text, den Arbeiterinnen auf den Reisfeldern Norditaliens Anfang des 20. Jahrhunderts sangen, der in zwei Zeilen fasst, was heute die Menschen im Nahen Osten und Nordafrika auf die Straße treibt: "Eine unwürdige Arbeit für einen Hungerlohn/und das Leben wird davon aufgezehrt." Die Menschen schreien nach Würde, und dieser Begriff hat für sie eine zutiefst existenzielle Bedeutung.

Die breite Bevölkerung verarmt, während eine kleine Schicht in obszönem Reichtum schwelgt

Algerien, Libanon und der Irak sind Gesellschaften, die bis heute tief geprägt sind vom Trauma des Krieges und Bürgerkrieges. Das System, der Staat gab sich immer als Garant gegen den Rückfall in blutige Selbstzerfleischung. Doch erscheint der jungen Generation der Status quo so unerträglich, dass sie sich nicht mehr davon schrecken lässt - sie hat die Gräuel nicht erlebt, die ihre Eltern noch zurückzucken ließen. Sie lassen sich aber auch nicht davon einschüchtern, dass etwa im Irak maskierte Scharfschützen auf unbewaffnete, fahnenschwenkende Jugendliche feuern. 250 Tote hat es seit Beginn der Proteste vor einem Monat gegeben. Aber die Frustration ist stärker als die Angst.

Eine junge Bevölkerung, zwei von drei Menschen in diesen Ländern sind unter 30, birgt große Chancen - aber nur, wenn der Staat Bildung, Jobs und Perspektiven bieten kann. Die Realität sieht anders aus: horrende Jugendarbeitslosigkeit, selbst unter Akademikern. Aufstieg und Wohlstand sind jenen vorbehalten, die Verbindungen haben. Die breite Bevölkerung verarmt, während eine kleine Schicht in obszönem Reichtum schwelgt. Die öffentliche Hand im Irak oder in Libanon kann nicht einmal die Versorgung mit Strom oder trinkbarem Wasser sicherstellen.

Und so fordern die Bürger ein Ende der systemischen Korruption, der Klientelwirtschaft, den Sturz der Eliten, die sich bereichern. Das aber geht an die Grundfesten der politischen Ordnung. Im Irak und in Libanon sollte das an konfessionellem Proporz ausgerichtete System die Religions- und Bevölkerungsgruppen befrieden und Gerechtigkeit schaffen. Doch es ist zur Grundlage für Günstlingsversorgung entlang dieser Linien pervertiert. In Ägypten und Algerien haben Armee und Geheimdienste ihre unangefochtene Stellung missbraucht, einen Staat im Staat zu errichten, der jeder Kontrolle entzogen ist und sich selber die Pfründe zuteilt.

Es ist fraglich, ob sich diese Staaten im Rahmen ihrer bestehenden Ordnung so reformieren können, dass sie den Forderungen ihrer Bürger gerecht werden. Ebenso unklar ist, ob die Protestierenden im Irak und in Libanon ihre Einheit wahren können oder doch die tief verwurzelten Rivalitäten zwischen den Glaubens- und Religionsgruppen durchbrechen - ob am Ende Chaos und Gewalt stehen. Das revolutionäre Regime in Iran jedenfalls, als wichtigster externer Machtfaktor in Libanon wie im Irak mit Parteien und Milizen vertreten, macht klar, dass es Umstürze zu seinen Lasten nicht akzeptieren wird.

Sicher ist nur, dass sich die Probleme nicht ohne gute Regierungsführung lösen lassen - und diese Forderung steht für viele Menschen in der Region noch vor den nicht minder berechtigten Rufen nach demokratischen Freiheiten. Die Tunesier, die sich 2011 im Arabischen Frühling Demokratie erkämpften, haben jüngst einen weithin unbekannten Juristen zum Präsidenten gewählt, um nicht von einem reichen Medienunternehmer regiert zu werden, der als korrupt gilt. Gute Regierungsführung sollte auch für die Europäer die Maßgabe der Politik gegenüber all diesen Ländern sein.

Gerade die Bundesregierung muss sich von der Illusion verabschieden, dass etwa Ägypten stabil ist. Präsident Sisi, den Donald Trump in einem Moment entwaffnender Ehrlichkeit "meinen Lieblingsdiktator" genannt hat, kann die Proteste noch unterdrücken, die Grenzen einigermaßen dicht halten. Doch wenn die Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens ihren schnell wachsenden Völkern grundlegende Dienstleistungen nicht bieten, geschweige denn Perspektiven auf ein Leben in Würde, werden die Systeme kollabieren - oder mit brutaler Gewalt gegen ihre eigenen Bürger vorgehen müssen.

Zugleich werden die Jungen, die aus Hoffnungslosigkeit die Angst vor dem eigenen Staat überwunden haben, ihre Zukunft andernorts suchen - vor allem in Europa. Die tödliche Gefahr der Überfahrt übers Mittelmeer wird sie nicht abhalten, auch Grenzzäune werden es nicht. Der Herbststurm wird wieder an Europas Grundfesten rütteln - so wie nach den Umstürzen des Jahres 2011 und der daraus folgenden Fluchtbewegung.

© SZ vom 31.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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