"Die sollen bleiben. Wenn sie arbeiten oder eine Ausbildung machen", sagt die Leipzigerin gestikulierend zu dem Mann aus Aleppo, "aber sonst nicht." Der syrische Flüchtling sagt, er würde sofort arbeiten, wenn er nur dürfte. Der Zahnarzt schildert auf Nachfrage ein kafkaeskes Behördendilemma: Er habe zwar eine Arbeitserlaubnis beantragt, aber um sie zu bekommen, bräuchte er eine Bestätigung des Arbeitgebers. Dabei laden Zahnarztpraxen einen Flüchtling ohne bestehende Arbeitserlaubnis gar nicht erst zum Bewerbungsgespräch ein. "Zurück kann ich ja nicht", sagt er und zieht die Schultern ein. Die Umstehenden blicken betreten zu Boden.
Ein paar Schritte weiter diskutiert ein älterer Herr mit einer ehrenamtlichen Flüchtlingshelferin und äußert seine Sorge, dass "die Wirtschaftsflüchtlinge und ihre Hartz-IV-Kinder uns noch ärmer machen".
Streit? Ja bitte!
Menschen unterschiedlichen Alters und mit verschiedenen Berufen, Ansichten und Geschichten zum Reden, Debattieren, Streiten an einen Tisch zu bringen, das ist die Idee des Democracy Lab der Süddeutschen Zeitung. In Leipzig haben sich SZ-Redakteure mit 19 Bürgern getroffen, um über die deutsche Flüchtlingspolitik zu diskutieren und darüber, ob und wie sie sich ändern sollte. Gut zwei Jahre nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise und dem berühmten Diktum von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), "Wir schaffen das", ist das Land noch immer gespalten. "Schaffen wir das wirklich?" Genau darüber will die Redaktion der SZ mit Bürgern sprechen. Der Ansatz: Die Teilnehmer sollen in verschiedenen Gruppen zuerst Probleme in der Flüchtlingspolitik benennen und dann in neuen Gruppen konkrete Lösungsansätze diskutieren.
Die erste Erkenntnis?
Am Anfang der Debatte steht eine Vorstellungsrunde. Die meisten Teilnehmer sind Flüchtlingen gegenüber aufgeschlossen, viele engagieren sich in der Flüchtlingshilfe. Schnell zeigt sich in der Diskussion aber, dass die Teilnehmer nicht so gleichgesinnt sind, wie es auf den ersten Blick erscheint. Eine Lehrerin, die in Leipzig lange Deutsch als Zweitsprache unterrichtet hat, berichtet von überforderten Kollegen und fehlender Unterstützung. Ein Rentner, zunächst energischer Bedenkenträger, gesteht, dass es ihn sehr interessiert, wie junge Akademiker die Flüchtlingsproblematik wahrnehmen. Der Theaterpädagoge betont, man müsse zunächst grundsätzlich klären, was das überhaupt heißen soll: Integration. Selbst ein flüchtlingsfreundlich gesinnter Pfarrer ist nicht restlos überzeugt, "ob wir das wirklich schaffen".
Die Diskussion artet nie in Geschrei aus, doch gerade zu Beginn der Runde fallen teils aggressive Kommentare. Ob sie den Quatsch denn wirklich glaube, fragt ein Mann eine Flüchtlingshelferin, als sie die Ergebnisse ihrer Gruppe vorträgt. Dort ist man überzeugt, Deutschland könne die Integration von Flüchtlingen bewältigen. Das zentrale Argument: Die Bundesrepublik sei ein starkes Land. Das zeige das zivilgesellschaftliche Engagement. Außerdem: "Gibt es eine andere Möglichkeit, als es zu schaffen?"
Nur so ein Gefühl?
Über die Genfer Flüchtlingskonvention will an diesem Abend niemand streiten. Wer vor Krieg und politischer Verfolgung fliehen muss, soll in Deutschland und Europa Schutz genießen. Aber wie viele Menschen das tatsächlich sind und wie viele eben "nur Wirtschaftsflüchtlinge", wird zum Streitpunkt. Es fallen Sätze wie "Wir haben schon aus humanistischen Gründen keine andere Wahl." Oder: "Die Gesellschaft muss sich erneuern." Auf der anderen Seite steht die Sorge, dass sich bestehende Parallelgesellschaften vergrößern. Ein junger Mann berichtet, dass er in der Nähe großer Gruppen arabisch aussehender Männer Unbehagen verspürt. Andere Teilnehmer sind sicher, dass eine soziale Spaltung fremdenfeindliche Einstellungen begünstige: "Die Menschen haben Angst, dass sie das Wenige, was sie haben, nun auch noch mit Zuwanderern teilen müssen."
Nahezu alle beklagen fehlenden Gestaltungswillen auf Seiten der Politik. Dass die sogenannten Integrationskurse ihren Namen nicht verdienen, berichtet der Zahnarzt aus Syrien. Der 27-Jährige hat in seiner Heimat ein Studium abgeschlossen und einige Jahre gearbeitet. In Deutschland sollte er in einem Kurs die medizinische Fachsprache und das Gesundheitssystem erklärt bekommen. Seine Dozenten waren aber keine Ärzte oder andere Experten, sondern Sozialpädagogen. Hauptsächlich sei es um einfache deutsche Vokabeln gegangen und nicht um Werte, Fachwissen oder berufliche Perspektiven.
Es geht an diesem Abend beim Democracy Lab in Leipzig auch darum, andere Meinungen auszuhalten. Eine junge Frau gesteht später, dass sie mehrmals fast aufgestanden und gegangen wäre. Doch dann habe sie sich anders entschieden, sich den abweichenden Meinungen ausgesetzt - und sagt am Ende: "Ich bin froh, dass ich trotzdem dageblieben bin."
Was war das Problem?
Andere sind gar nicht erst gekommen. Viele Menschen mögen eine starke Meinung zur deutschen Flüchtlings- oder Einwanderungspolitik haben. In einer größeren Runde darüber diskutieren und die eigenen Positionen verteidigen wollen aber offensichtlich nur wenige. Etwa 1800 Menschen füllten den Anmeldungs-Fragebogen aus, der im Vorfeld der Veranstaltung auf SZ.de stand. Die Fragen darin zwangen die Nutzer, ihre Haltung zu offenbaren: Brauchen wir eine deutsche Leitkultur oder nur etwas Zuversicht? Brauchen Flüchtlinge unsere uneingeschränkte Hilfe oder brauchen wir ein eingeschränktes Asylrecht? Im Anschluss luden wir jene Menschen ein, die ihre Kontaktdaten hinterlassen hatten. Ziel war es, das Publikum zu gleichen Teilen mit Skeptikern und Befürwortern der aktuellen Flüchtlingspolitik zu besetzen.
Sehr viele füllten zwar den Fragebogen aus, gaben jedoch falsche oder gar keine Kontaktdaten an. Fast ausnahmslos waren sie dem Contra-Lager zuzuordnen. Von jenen, die neben einer kritischen Sicht auf die Flüchtlingspolitik auch Telefonnummer oder Mailadresse offenbarten, kamen nur drei der Einladung nach. Die Angst, aufgrund der eigenen, vielleicht unpopulären Meinung angegriffen zu werden, war offenbar groß. In E-Mails an das Democracy Lab fielen Begriffe wie "Nazikeule".
Am Ende kamen 19 Menschen in Leizig zusammen, darunter ein Pfarrer, ein Vertriebener, ein Theaterpädagoge, eine Ingenieurin, eine Schulleiterin, Studierende, Engagierte, ein Geflüchteter. Einige Teilnehmer sind extra stundenlang angereist, mit dem Zug aus Hannover oder Frankfurt, übernachteten auf eigene Kosten im Hotel.
Der richtige Ort?
In Leipzig erzählt man sich die Geschichte, dass Angela Merkel einst selbst mit bloßen Händen die Moritzbastei ausbuddelte. 1973 entdeckten Studierende auf der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten für einen Club die Reste des alten Gewölbes. Sie überzeugten die Stadt vom Wiederaufbau. 30 000 Universitätsangehörige entfernten 40 000 Kubikmeter Schutt. Unter ihnen: die heutige Bundeskanzlerin, damals Physikstudentin.
Die Moritzbastei scheint also durchaus ein geeigneter Ort, um einen Satz wie "Wir schaffen das" zu diskutieren. Leipzig gilt als großstädtischste Großstadt Sachsens. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 packten Tausende Leipziger mit an, brachten Kleidung, Lebensmittel und Hygieneartikel in die oft provisorischen Unterkünfte. Die Protestierer des Pegida-Ablegers "Legida" sahen sich jede Woche in der Unterzahl angesichts der vielen Gegendemonstranten.
Democracy Lab:Wie Flüchtlinge unser Land verändern
Über Flüchtlingspolitik grübeln und streiten die Deutschen noch zwei Jahre nach "Wir schaffen das". Sollen wir eine Obergrenze festlegen? Wer bezahlt das alles? Und was ist mit der Leitkultur? Ein "Democracy-Lab"-Dossier zur Flüchtlingspolitik.
Doch auch Sachsens hippe Metropole birgt Konfliktpotenzial. 2013 zog ein geplanter Moscheebau im Leipziger Norden Proteste mitsamt aufgespießter Schweineköpfe nach sich. Im Osten der Stadt gilt die migrantisch geprägte Leipziger Eisenbahnstraße seit Jahren als Schwerpunkt für organisierte Kriminalität. Im südlichen Stadtteil Connewitz kommt es regelmäßig zu Auseinandersetzungen zwischen Linksextremen und der Polizei. Zuletzt waren es jedoch 200 Neonazis, die dort in einem ganzen Straßenzug die Schaufenster zertrümmerten.
Lösungen! Lösungen?
Der Ort für die Debatte ist wichtig. Er soll zum Thema passen, er soll den Rahmen setzen, ein gutes, konstruktives Gespräch ermöglichen. Denn im Democracy Lab diskutieren die Teilnehmer auch einen möglichen Umgang mit den verhandelten Problemen. Wer soll bleiben, wer nicht? Wo muss die Politik nachbessern? Und was kann man selbst tun gegen Ängste - vor Kriminalität, vor dem Fremden, aber auch vor einem Rechtsruck, den das Land vor der Bundestagswahl erlebt?
Die Ausreisepflichtigen, die schlecht integriert sind, sollten abgeschoben werden, meinen viele. Uneins sind die Teilnehmer darüber, ob nach Afghanistan abgeschoben werden sollte. Die Lösung, die nicht nur alle Diskutierenden, sondern auch alle Parteien immer wieder nennen: Fluchtursachen in den Herkunftsländern bekämpfen, damit Menschen sich gar nicht erst auf die gefährliche Reise machen. Eine Teilnehmerin findet, dass Deutsche besser über die Situation in Krisenländern aufgeklärt werden sollten, damit sie sich engagieren und damit sie öfter mal ein Fair-Trade-Produkt kaufen.
Es müssten außerdem mehr Polizisten, aber auch Lehrer und Sozialarbeiter eingestellt werden. Wer sich bemühe, Deutsch zu lernen und einen Job zu finden, müsse belohnt werden. Einen Abschiebestopp für Flüchtlinge, die in Deutschland arbeiten, wünschen sich viele. Der Syrer, der nicht arbeiten darf, stößt auf viel Zustimmung für seine Forderung nach Qualitätsstandards bei Sprach-, Integrations- und Fortbildungskursen. Die sollten außerdem voneinander getrennt werden und "viel, viel früher anfangen, gleich wenn man hier ankommt am besten".
Und was tun gegen das diffuse Unbehagen, gegen die Angst? Der Pfarrer schlägt Gottvertrauen vor. Der Theaterpädagoge sagt: "Wir sollten uns vielleicht erst mal fragen, was mit Angst überhaupt gemeint ist." Wer die eigenen Instinkte hinterfrage, stoße vielleicht auf Vorurteile, die sich überwinden ließen. Einige schlagen vor, sich selbstkritisch zu reflektieren und das Gespräch mit denen zu suchen, die einem Angst machen. Andere Teilnehmer scheinen sich in ihrem Unbehagen nicht ernstgenommen zu fühlen.
Ob "die Medien" Ängste ernster nehmen sollten, bleibt umstritten. Journalisten sollten sich mit ihrer Haltung zurücknehmen und faktenlastiger berichten, sagen einige. Gerade die großen Medien sollten viel mehr einordnen und aufklären, sagen andere.
Miteinander reden, da sind sich alle Teilnehmer sicher, kann ein Anfang sein. Doch dafür braucht es Argumente, neue Ideen. Eine junge Frau aus Hannover ist auf ihrer Suche danach nach Leipzig gekommen. Sie fühle sich nach der fast vierstündigen Veranstaltung gestärkt für weitere Diskussionen, sagt sie, selbst wenn sie nicht in einem geschlossenen Raum und mit klaren Regeln geführt werden.
Es ist 22 Uhr, als sich viele der Teilnehmer im Innenhof der Moritzbastei noch auf ein Bier treffen. Es sind Lautsprecher und Leisetreter dabei. Die Atmosphäre ist freundschaftlich, die Runde sitzt bis weit nach Mitternacht. Eine junge Frau wird zwei Tage später eine E-Mail schreiben: "Die einmalige Möglichkeit, mit Menschen zu diskutieren, die ich nicht kenne, die alle woanders herkommen und hingehen, um für diesen Augenblick in einen intensiven Austausch zu treten, hat mir tatsächlich Demokratie näher gebracht - ganz kitschig habe ich gestern gedacht: wie auf der Agora."