Der Tag, an dem ganz Deutschland das Genre der Klimaklagen entdeckt hat, war der 29. April 2021. Damals verschickte das Bundesverfassungsgericht einen 127 Seiten starken und sehr überraschenden Beschluss. Das deutsche Klimaschutzgesetz wurde für teilweise verfassungswidrig erklärt. Das war spektakulär - bis dahin glaubten viele Fachleute, das Gericht werde solche Klagen nicht einmal für zulässig erklären, geschweige denn inhaltlich prüfen. Für die Rechtsanwältin Roda Verheyen, die eine der erfolgreichen Verfassungsbeschwerden ausgearbeitet hatte, war das ein großer Tag. "Ich muss jubelnd durch den Flur unserer Kanzlei in Hamburg gelaufen sein, so berichteten es mir später meine Kolleginnen und Kollegen", schreibt sie in ihrem nun erschienenen Buch "Wir alle haben ein Recht auf Zukunft - Eine Ermutigung", das sie gemeinsam mit der Journalistin Alexandra Endres verfasst hat.
War es ein großer Tag? Das Gericht hatte - äußerst innovativ - die künftigen Beschränkungen der Freiheit auf die Waagschale gelegt, die unausweichlich werden, wenn die verbleibenden Budgets der Kohlendioxidemissionen schon in den nächsten Jahren weitgehend verbraucht sind. Die Gerechtigkeit zwischen den Generationen fand ihre Verankerung im Grundgesetz, ebenso wie die Pariser Klimaziele. Ein großer Tag also. Aber eben auch einer, der hohe Erwartungen geweckt hat, die sich bisher noch nicht erfüllt haben. Der Siegeszug der deutschen Klimaklagen ist vorerst ausgeblieben; gerade erst haben mehrere Landgerichte Klagen gegen Autohersteller abgewiesen.
Weltweit sind 2000 Verfahren anhängig
Verheyens Buch ist, kaum überraschend, ein Plädoyer dafür, den Klimaschutz auch vor Gericht durchzusetzen, wie sie es seit vielen Jahren als Anwältin tut, im Auftrag von Umweltorganisationen wie Greenpeace oder Germanwatch. Hier wird der Rechtsweg natürlich auch zum Aktivismus, um auf die drängenden Probleme des Klimawandels aufmerksam zu machen.
Aber wer Verheyens Buch aufmerksam liest, der lernt, dass Klimaklagen - jedenfalls viele davon - eine seriöse juristische Angelegenheit sind. Längst sind sie zum weltweiten Phänomen geworden, der Karlsruher Klimabeschluss war keineswegs der Anfang der Geschichte. In den Niederlanden hatte ein Gericht die Regierung bereits 2015 (und bestätigt 2019) zur Senkung von Treibhausgasemissionen verurteilt, im selben Jahr ist eine ähnliches Urteil in Pakistan verkündet worden. Auch in Australien, in Belgien, in Tschechien wurden Klimaschutzurteile gefällt, und weltweit wird geklagt, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Das Sabin Center for Climate Change Law an der New Yorker Columbia Universität zählt weltweit mehr als 2000 Verfahren.
Der wiederkehrende Einwand gegen solche Klagen lautet: Sind es nicht zuvorderst die Parlamente und Regierungen, die für die Reduzierung von Emissionen sorgen und eine Energiewende einleiten müssen? Ist es nicht Sache der Politik, unterschiedliche Optionen zu prüfen und Kosten gegen Nutzen abzuwägen? Sind Gerichte damit nicht überfordert?
Es ist eine Stärke von Verheyens Buch, dass es diesen vermeintlichen Gegensatz auflöst. Denn oft hat die Politik längst den ersten Zug getan, etwa im Pariser Abkommen und im Klimaschutzgesetz. Das ist bindendes Recht - und damit das natürliche Habitat der Gerichte. Zwar ist es alles andere als einfach, Klimaziele in konkrete Maßnahmen zu übersetzen. Aber hier hilft die Wissenschaft. Die dort formulierte 1,5-Grad-Schwelle lässt sich in Kohlendioxid-Budgets umrechnen: Wieviel Gigatonnen dürfen noch ausgestoßen werden, bis das Budget aufgebraucht ist? Mit dieser Mischung aus juristischen Vorschriften und naturwissenschaftlichen Grenzwerten können Gerichte arbeiten. Das hat das Karlsruher Gericht eindrucksvoll vorgeführt.
Konzerne arbeiten klimaschädlich, aber legal
Komplizierter verhält es sich mit den Klagen gegen Großunternehmen, deren Mitverantwortung für Emissionen kaum hinter dem Anteil ganzer Staaten zurückbleibt. Mehrere Gerichte haben ihre Zurückhaltung ausdrücklich damit begründet, dies sei nun wirklich der Job von Regierungen und Parlamenten, weil die Autohersteller ein zwar klimaschädliches, aber eben auch legales Geschäft betreiben.
Die Zögerlichkeit mag damit zu tun haben, dass man hier ungewohntes Terrain betritt. Zwingend ist die Selbstbeschränkung nicht. Denn letztlich steckt auch hinter diesen Klimaklagen eine juristisch nachvollziehbare Logik - die Logik der Nachbarschaftsklagen. Der eine verursacht Emissionen, der andere leidet darunter. Nur dass es hier eben nicht um Grillqualm und Rasenmäherlärm geht, sondern um Kohlendioxid, das Erderhitzung und Extremwetter verursacht. Davon betroffen sind Menschenrechte wie Freiheit, Gesundheit, Eigentum. Für deren Schutz sind Gerichte die passende Adresse.
Immer wieder lenkt Verheyen die Aufmerksamkeit auf die Betroffenen, die diese Rechte einfordern. Zum Beispiel auf die vier jungen Leute von der Nordseeinsel Pellworm, die in Karlsruhe geklagt hatten. Sie schauen schon jetzt zu, wie der steigende Meeresspiegel den Deich um ihre Insel bedroht. Einer ihrer Mandanten ist ein Bergführer aus Peru, dessen Haus von der Gletscherschmelze bedroht ist. Philippinische Reisbauern können wegen extremer Regenfälle ihre Felder kaum noch bewirtschaften. Die Schweizer "Klimaseniorinnen" sind altersbedingt durch Hitzeperioden besonders gefährdet - sie werden ihren Fall Ende März vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertreten.
Verheyen erzählt in einem betont optimistischen Tonfall, sie beschwört keine Weltuntergangsszenarien, sondern zeigt Handlungsmöglichkeiten auf. Ein Fazit lässt sich aus ihrem Buch ziehen: Der Klimaschutz wird aus den Gerichtssälen nicht verschwinden, ganz im Gegenteil. Falls die Politik versagt, könnte ihre große Zeit noch bevorstehen.