Coronavirus in Indien:Wo Abstand Luxus ist

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Bangalore, an einem normalen Tag vor ein paar Wochen, und Bangalore am Sonntag: Wo sonst Busse, Mopeds und Rikschas um die Vorfahrt kämpfen, testeten die Behörden nun eine Ausgangssperre. (Foto: N/A)

Das bald bevölkerungsreichste Land der Welt ist verwundbar. Im gedrängten Leben haben nur wenige die Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Ist Indien für die drohende Corona-Epidemie gewappnet?

Von Arne Perras, Singapur

Vorerst ist es nur ein Test. Die indische Regierung hatte sich den Sonntag ausgesucht, um alle mental auf das vorzubereiten, was andernorts, in stark betroffenen Ländern, schon verordnet ist: Die Corona-Ausgangssperre. Premier Narendra Modi hatte den Probetag in einer Fernsehansprache mit etwas Vorlauf angekündigt, für eine Dauer von 14 Stunden, von sieben Uhr morgens bis 21 Uhr abends, sollten sich die Leute nicht mehr draußen bewegen und zuhause bleiben. So könnten alle ihre Fähigkeit zur freiwilligen Selbstbeschränkung unter Beweis stellen, erklärte Modi. "Das wird uns in künftigen Situationen noch helfen", versicherte der Premier.

Aber wie werden sie aussehen, diese "künftigen Situationen" in Indien, dem bald bevölkerungsreichsten Land der Welt? Bislang waren es andere Regionen, die durch die Corona-Krise in den Fokus rückten. Indien registrierte bislang vergleichsweise wenig Infizierte, 370 waren es am Sonntag landesweit. Einige Experten wunderten sich vergangene Woche noch darüber, dass Indien so wenige Tests durchführt, die Regierung beharrte darauf, dass sie bisher nichts versäumt habe. Doch nun zeigt sich: der Anstieg verläuft rasant, und angesichts der Unübersichtlichkeit in Indiens Metropolen liegt die Vermutung nahe, dass viele Fälle gar nicht erfasst werden.

Wer in die indische Historie blickt, stößt auf die Folgen der sogenannten Spanischen Grippe in Südasien, im Jahr 1918. "Wie ein Dieb in der Nacht" habe sich die Seuche in die Dörfer und Städte geschlichen, schrieb ein Beamter der britischen Kolonialmacht. "Sie kommt schnell und ist heimtückisch." Mahatma Gandhi war wenige Jahre zuvor erst aus Südafrika zurückgekehrt, als auch ihn das Fieber in Gujarat packte. Er überlebte, aber in keinem anderen Land der Welt tötete die Grippe damals mehr Menschen als in Indien. Exakte Zahlen gibt es nicht, aber die Schätzungen belaufen sich auf bis zu 18 Millionen Opfer, das entsprach damals etwa fünf Prozent der Bevölkerung. Es waren etwa 20 Mal so viele Tote wie in den Vereinigten Staaten.

Auch wenn sich hygienische, soziale und medizinische Voraussetzungen im Laufe eines Jahrhunderts stark verändert haben, so schält sich von Tag zu Tag doch immer deutlicher die Erkenntnis heraus, dass Indien, mit hunderten Millionen Menschen in Armut und ohne absehbaren Zugang zu intensivmedizinischer Behandlung, extrem verwundbar ist, wenn sich das Virus dort weiter verbreitet. Die Kolumnistin Taveela Singh formulierte im Indian Express, was nun auch immer stärker in den Zirkeln der Macht diskutiert wird: "In sechs Jahren hat Premier Modi keinen ernsteren Test für seine Führung erlebt", schreibt die bekannte Autorin, an Corona werde sich zeigen, ob er als Regierungschef besteht oder nicht.

Schulen und Einkaufszentren in Indien sind nun geschlossen, Züge stehen still. Und die Regierung bereitet die Leute auf weitere Restriktionen vor. Doch auf Distanz gehen, wie es viele Experten jetzt raten - das dürfte vielen Indern im Alltag extrem schwerfallen, gerade in den Armenvierteln, wo sich ein Dutzend Menschen oftmals einen Raum teilen müssen. In den Slums von Mumbai kann man sich kaum aus dem Weg gehen, in den Zügen der Metropole sterben jedes Jahr Tausende Pendler, weil sie aus überfüllten Zügen stürzen. Abstand? Vielen ist das fremd, ein Luxus, den sie sich nicht leisten können.

Angesichts dieser Verhältnisse fiel der Test mit der freiwilligen Ausgangssperre am Sonntag erstaunlich gut aus. Zumindest in Delhi und einigen anderen großen Städten blieben die Straßen weitgehend leer. Andernorts, zum Beispiel in Jaipur, gab es widersprüchliche Meldungen. Autofahrer posteten wackelige Videos von der Straße, auf denen sich noch immer motorisierte Rikschas drängten, Hupen und Gedrängel. Gleichzeitig versicherte die Regierung , dass sich die meisten Leute an die Beschränkungen hielten.

Das dicht gedrängte Leben, in dem es nur wenige Möglichkeiten gibt, sich zurückzuziehen, wird die Behörden in jedem Fall vor enorme Probleme stellen. 400 Millionen Inder leben in großen, engen Städten. Außerdem hat das Land mit einer sehr ungleichen und lückenhaften medizinischen Versorgung zu kämpfen. In den vergangenen Tagen hörten wohlhabende Inder von ihren Angestellten manchmal den Satz: "Ach Corona, das ist doch nur eine Krankheit der Reichen". Doch diese Stimmung könnte sich schnell ändern, wenn die Krankheit erst einmal in den großen Slums angekommen ist.

Ist das Land gewappnet? Indien verfügt über etwa 70 000 Intensivbetten, das sind mehr als doppelt so viele wie in Deutschland. Aber die indische Bevölkerung ist 15 mal so groß. Manoj Joshi von der "Observer Research Foundation" in Delhi warnt, dass im Falle einer schnellen Ausbreitung des Virus Millionen Inder Behandlungsplätze brauchen werden, die das Land nicht hat.

Modis Kampagne, die Sauberkeit und Hygiene im Land zu verbessern, hat einige Erfolge gebracht, doch noch immer gibt es Fälle verheerender Nachlässigkeit und Schlamperei, gerade öffentliche Krankenhäuser lassen Mindeststandards in der Hygiene vermissen. Gruselige Geschichten, in denen Ratten Neugeborene verstümmeln oder gar töten, gehören in Indien leider noch nicht ins Reich der Legenden, sie geschehen nach wie vor. Indische Zeitungen berichten immer wieder über streunende Hunde, die sich in Krankenhäusern herumtreiben und sich manchmal sogar Neugeborene schnappen. Das Gesundheitssystem ist massiv überfordert und nur wer über Geld verfügt, kann auf private Kliniken ausweichen.

Angesichts einer drohenden Corona-Epidemie rücken die politischen Auseinandersetzungen in Indien erst mal in den Hintergrund: Proteste gegen den anti-muslimischen Kurs der Regierung finden immer seltener statt, nicht einmal in Shaheen Bagh im Südosten Delhis versammeln sich noch die Massen, dort, wo wochenlang Frauen den Highway blockierten, um gegen das umstrittene Staatsbürgergesetz der Regierung Modis zu demonstrieren. Am Sonntag zeigten Bilder leere Zelte, manche Demonstranten ließen ihre Sandalen zurück, um zu zeigen, dass sie das Feld noch nicht räumen wollen. Dass sie wiederkommen.

Doch in Zeiten des Virus wird das immer unwahrscheinlicher.

© SZ vom 23.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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