Bundestag:Regierungsvakuum eröffnet Spielräume im Bundestag

Lesezeit: 3 min

Auch ohne Regierung mächtig: der Bundestag, hier bei seiner konstituierenden Sitzung am 24. Oktober. (Foto: REUTERS)
  • Noch ist offen, wie die künftige Bundesregierung aussehen wird.
  • Im Bundestag eröffnet das neue Spielräume, da es keine festgefügten Mehrheiten gibt.
  • Ob Einwanderungsgesetz, Sofortprogramme gegen den Pflegenotstand oder Kohleausstieg - verschiedene Fraktionen versuchen nun, ihre Anliegen durchzubringen.

Von Michael Bauchmüller, Markus Balser und Kristiana Ludwig, Berlin

Für den Bundestag ist es eine seltene Phase: Wer Regierungspartei ist und wer Opposition - das ist in diesen Wochen nicht ganz klar. In so einer Phase lassen sich mitunter Mehrheiten finden, die es sonst so nie gäbe. Das eröffnet Spielräume, auch für gewagte Projekte.

Ein Beispiel: Drei Tage nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche von Grünen, FDP und Union legte die SPD dem Bundestag in dieser Woche einen 21 Seiten starken Gesetzentwurf vor. Sie schlägt darin ein Punktesystem für Einwanderer vor, damit gut ausgebildete Arbeitskräfte legal nach Deutschland ziehen könnten. So etwas fordern auch die Grünen seit Jahren.

"Weil es ein taktisches Umfallen der Unionsfraktion gab, als es darum ging, Jamaika zu ermöglichen", wolle man das Einwanderungsgesetz nun zur Abstimmung stellen, erklärte SPD-Politiker Sebastian Hartmann den Abgeordneten: "Wir haben uns nun gedacht: Das kann man auch einfacher haben." Jetzt müsse es für die Idee doch eine Mehrheit geben.

Interview mit Jutta Allmendinger
:"Wir zementieren Ungleichheit"

Die soziale Herkunft bestimmt in Deutschland immer noch die Aufstiegschancen, beklagt die Soziologin Jutta Allmendinger. Und erklärt, wie eine künftige Bundesregierung das ändern könnte.

Von Michael Bauchmüller und Stefan Braun

Letztlich scheiterte der Vorstoß zwar (die Union nannte das Punktesystem "von gestern", der FDP sprang der Entwurf "in ein paar Punkten vielleicht etwas zu kurz", die Grünen sahen "eine Reihe gravierender Unzulänglichkeiten"), der ganze Vorgang aber zeigt, welche Macht das Plenum auch ohne Regierung hat. Und wie diese sich nutzen ließe.

"So etwas wie den SPD-Entwurf für ein Einwanderungsgesetz bringen wir nicht für das Schaufenster ein, sondern weil der Bundestag es tatsächlich jetzt beschließen kann", sagt Carsten Schneider, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion. "Diese Chance ist da, weil es gerade keine fest gefügten, durch Koalitionen gebundene Mehrheiten gibt. Da entsteht ein Spielraum, den es nur in dieser Situation gibt."

In der ersten regulären Sitzungswoche haben die Chance einige ergriffen. Die Linksfraktion, zum Beispiel, beantragte Sofortprogramme gegen den Pflegenotstand in Kliniken und Altenheimen. Sie forderte unter anderem eine vorläufige Mindestzahl für Pflegekräfte und einen "Pflegepersonalfonds". Die Jamaika-Sondierer hatten sich schon früh auf "Sofortmaßnahmen für eine bessere Personalausstattung" geeinigt, SPD und AfD könnten dieses Ziel ebenfalls unterschreiben.

"Insofern möchte ich Sie auffordern, Ihrem Gewissen zu folgen", sagte der linke Gesundheitspolitiker Harald Weinberg. Es stehe schließlich "kein Fraktionszwang und keine Koalitionsdisziplin im Wege".

Günstige Gelegenheit für neue Allianzen

Auch die Grünen, die in den Sondierungsgesprächen bis aufs Messer um Klimaschutz gekämpft hatten, versuchen es nun über das Parlament. In einem eilig zusammengezimmerten Antrag verlangten sie vorige Woche den Einstieg in den Kohleausstieg. Unverzüglich müsse nun auch ein Klimaschutz-Sofortprogramm her, um das deutsche Klimaziel noch zu erreichen.

"Den Versuch ist es wert", sagt der Grünen-Abgeordnete Oliver Krischer, Urheber des Antrags. "Deshalb haben wir ihn auch nicht überfrachtet." Man wolle nun versuchen, andere Fraktionen zu überzeugen. "Die Gelegenheit ist günstig", sagt Krischer. Wie oft er schon einen Kohle-Antrag eingebracht hat? "Das kann man schon im Dutzend-Maßstab zählen", sagt er.

Einstweilen landen all die Anträge nun im Hauptausschuss des Bundestages. Das Gremium mit je 47 ordentlichen und stellvertretenden Mitgliedern übernimmt für den Übergang jene Arbeit, die normalerweise den Fachausschüssen zufällt. Damit sind es häufig keine Experten, die über die Gesetzesanträge beraten. Sollte sich aber eine Mehrheit finden für ein Gesetz aus dem Regierungsvakuum, dann wäre eine künftige Regierung daran gebunden - gleich, welche Koalition sie stützt.

Mehr Tierschutz - auch ohne Regierung?

Gut möglich, dass das Gremium bald noch mehr Arbeit bekommt. Denn auch beim Thema Landwirtschaft könnte es auch ohne Regierung einen Vorstoß im Bundestag geben, sogar einen von Anfang an parteiübergreifenden. Nach Angaben aus Parteikreisen hätten führende Unionspolitiker bei den Grünen ausgelotet, ob nicht eine Kooperation beim Tierschutz möglich sei - und man Sondierungsbeschlüsse einfach versucht, umzusetzen.

Die Sondierer waren sich bei dem eigentlich umstrittenen Thema weitgehend einig geworden. In einem vertraulichen Papier hatten sie bereits festgehalten, mehr Geld etwa für die Tierwohl-Initiative, modernere Ställe und eine Haltungskennzeichnung zur Verfügung zu stellen. Es gehe um die Finanzierung der Gemeinschaftsaufgabe GAK und Bundesprogramme, heißt es dort weiter. Ziel sei es, einen "gesellschaftlichen Konsens für die Nutztierhaltung herzustellen und den Tierschutz voranzubringen".

Einige Hundert Millionen Euro waren für die Programme insgesamt vorgesehen, heißt es aus Verhandlungskreisen. Verbände hätten nun angeregt, die Sache auch ohne Regierung anzustoßen. Ob das wirklich passiert, sei offen und die Überlegungen in einem frühen Stadium.

Beim großen Jamaika-Streitthema, den Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus weiterhin zu untersagen, zeichnen sich ebenfalls neue Allianzen ab. FDP-Chef Christian Lindner kündigte eine Gesetzesinitiative gegen den Familiennachzug an und AfD-Fraktionschef Alexander Gauland rief bereits Union und FDP dazu auf, den Nachzug gemeinsam zu verhindern.

Interview mit Jutta Allmendinger
:"Wir zementieren Ungleichheit"

Die soziale Herkunft bestimmt in Deutschland immer noch die Aufstiegschancen, beklagt die Soziologin Jutta Allmendinger. Und erklärt, wie eine künftige Bundesregierung das ändern könnte.

Von Michael Bauchmüller und Stefan Braun

CDU-Innenminister Thomas de Maizière sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, es sei "noch Zeit genug, eine parlamentarische Mehrheit zusammenzubringen". Gemeinsame Anträge mit der AfD plane er zwar nicht. Man könne aber auch "nicht allein deswegen den guten Vorschlag unterlassen, weil vielleicht die AfD zustimmt".

© SZ vom 27.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: