Brexit:Die Gräben sind tief und die Zeit drängt

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Bei den altbekannten Streitpunkten gibt es weiter tiefe Gräben, sagt EU-Unterhändler Michel Barnier. (Foto: John Thys/dpa)

In Brüssel wird über die künftigen Beziehungen zu Großbritannien verhandelt. EU-Vertreter Barnier berichtet wenig Erfreuliches. Ein Telefonat am Abend könnte Klarheit bringen.

Von Björn Finke, Brüssel

Michel Barnier war am Montagmorgen in Eile: Gegen halb acht stand der Brexit-Chefverhandler im Brüsseler Ratsgebäude den EU-Botschaftern der 27 Mitgliedstaaten Rede und Antwort, um neun Uhr referierte er dann vor dem zuständigen Gremium des Europaparlaments. Da hatte der Franzose aber nicht viel Zeit, weil er kurz darauf wieder mit seinem britischen Gegenüber Lord David Frost über die künftigen Beziehungen des Königreichs zur EU debattieren musste. Diese Gespräche stecken fest - und die Zeit drängt.

Teilnehmer der beiden Briefings am Morgen sagen, Barnier habe Ernüchterndes berichtet: Bei den altbekannten Streitpunkten gebe es weiter tiefe Gräben. Dabei hatten er und sein Team am Sonntag zehn Stunden lang mit Frost und dessen Leuten in Brüssel diskutiert. Ein EU-Diplomat sagte, das Endergebnis sei ungewiss; "es kann immer noch in beide Richtungen gehen".

Der britische Chefverhandler Lord David Frost vor einem Gebäude der EU-Kommission, in dem er mit Michel Barnier über die künftigen Beziehungen spricht - mit offenem Ende. (Foto: KENZO TRIBOUILLARD/AFP)

Mehr Klarheit könnte ein Telefonat am Montagnachmittag bringen. Um 17 Uhr will Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit dem britischen Premier Boris Johnson Bilanz ziehen. Das Duo könnte zum Schluss kommen, dass weitere Gespräche sinnlos sind. Oder sie könnten eine Einigung erklären. Oder mitteilen, dass die Verhandlungen einfach weitergehen.

Zwar hieß es am Wochenende in London und Brüssel, dass Montagabend wohl die Deadline für die Gespräche sei, aber in der Geschichte der Brexit-Verhandlungen wurden ständig Fristen und Ultimaten gebrochen. Ein Europaabgeordneter sagte nach dem Rapport von Barnier, sein Gefühl sei, dass die Gespräche bis Mittwoch oder Donnerstag laufen werden.

Von Januar an drohen Zölle und Zollkontrollen

Am Donnerstagnachmittag kommen die EU-Staats- und Regierungschefs zu einem lange geplanten Gipfel in Brüssel zusammen, könnten dort über den Stand der Verhandlungen sprechen - und den Weg für einen Abschluss frei machen. Oder die Debatte ergibt, dass die Anstrengungen hoffnungslos sind. Dann könnte der Gipfel den Startschuss dafür geben, die Vorbereitungen für einen harten Bruch zu intensivieren.

Zwar hat das Vereinigte Königreich die EU bereits Ende Januar dieses Jahres verlassen, aber Bürger und Firmen werden das erst Anfang Januar 2021 richtig spüren. Denn zum Jahreswechsel endet die Brexit-Übergangsphase, in der Großbritannien weiter Teil des EU-Binnenmarkts und der Zollunion ist. Gelingt Barnier und Frost nicht im Dezember der Abschluss eines Handelsvertrags, werden von Januar an Zölle und Zollkontrollen eingeführt, zum Schaden der Unternehmen und Verbraucher.

Dass bislang Montagabend als letzte Frist für eine Einigung genannt wurde, liegt an Johnson: Der Premier wird am Abend das Unterhaus wieder über das umstrittene Binnenmarktgesetz abstimmen lassen. Der Rechtsakt würde Teile des gültigen Austrittsvertrags aushebeln und wird daher von Brüssel als Provokation und Vertrauensbruch angesehen. Dass das Gesetzgebungsverfahren weiterläuft, wird die Gespräche über den Handelsvertrag - sofern sie denn am Dienstag fortgesetzt werden - enorm belasten.

Der Handelsvertrag könnte womöglich erst mal provisorisch in Kraft treten

Dabei sind die Verhandlungen bereits schwierig genug. Umstritten sind noch immer die Fangquoten für EU-Fischer in britischen Gewässern, Vorgaben für fairen Wettbewerb zwischen Unternehmen in Großbritannien und in der EU sowie die Frage, wie Streitfälle geschlichtet und Strafen verhängt werden sollen. Barnier sagte Teilnehmern zufolge in einem Briefing am Morgen, bei den Fangquoten seien beide Seiten "sehr, sehr weit" von einer Einigung entfernt, und auch bei den anderen beiden Streitpunkten blieben teils große Differenzen.

Gelingt dennoch eine Einigung, müssten nach den EU-Regierungen auch das Europaparlament und das britische Unterhaus dem Handelsvertrag zustimmen. Weil die Zeit inzwischen so knapp ist, befürchten Europaabgeordnete nun, dass sie das Abkommen erst im neuen Jahr debattieren und verabschieden können. Der wichtigste Handelsvertrag in der Geschichte der EU würde dann am 1. Januar provisorisch in Kraft treten - ohne dass ihn Volksvertreter vorher prüfen können.

Ein EU-Diplomat sagte zu den Chancen einer Einigung, die Union sei zu weiteren Anstrengungen bereit, "um einen fairen, nachhaltigen und ausgewogenen Deal für die Bürger der EU und Großbritanniens" abzuschließen: "Es ist nun an Großbritannien, zwischen solch einem positiven Ergebnis und einem No-Deal zu wählen."

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