Das Schreiben hat vier Seiten, aber der Inhalt ist schnell zusammengefasst: Boris Johnson, der britische Premier, wiederholt gegenüber den europäischen Verhandlungspartnern, dass der Backstop - die im vorliegenden Deal mit Brüssel verabredete Lösung für Nordirland - mit ihm nicht zu machen sei. Brüssel müsse diesen ersatzlos streichen. Stattdessen schlägt er "alternative Lösungen" vor, womit eine Technik für die Grenz- und Zollkontrollen gemeint ist, die aber entweder unzureichend oder noch gar nicht entwickelt ist. Weil Johnson das weiß, schreibt er weiter, solange, bis es diese Alternativen gebe, müsse man sich eben gegenseitig vertrauen und auf Kontrollen verzichten. So sei eine harte Grenze in Irland zu vermeiden. Es geht hier, das sei noch einmal betont, um jenen Backstop, der in Johnsons kurzer Ägide als Außenminister ausverhandelt worden war und für den er noch in diesem Frühjahr als Abgeordneter gestimmt hatte.
Wäre sein Vorstoß nicht so anmaßend, könnte man über die Chuzpe des Briten fast lachen: Das ist kein Verhandlungsangebot, das Johnson da einen Tag vor seinen Reisen nach Berlin, Paris und zum G-7-Gipfel nach Biarritz an EU-Ratspräsident Donald Tusk geschickt hat. Das ist ein Schlag ins Gesicht. Mit ein paar vagen Versprechen macht man keine Verträge.
Großbritannien:Johnson will Backstop-Regelungen streichen
Der britische Premier wendet sich in einem Brief an EU-Ratspräsident Tusk und will den Austrittsvertrag nachverhandeln. Im Vereinigten Königreich wächst die Sorge vor einem Brexit ohne Abkommen.
Johnsons Behauptung, der Backstop unterminiere das Karfreitagsabkommen, ist nicht nachvollziehbar. Die EU würde, wenn sie sich auf den Vorschlag der Briten einließe, alle Regeln außer Kraft setzen, die sie für die Gemeinschaft selbst aufgestellt hat. All das weiß London natürlich, weshalb selbst die so seriöse BBC am Dienstagmorgen ihre Berichterstattung so intonierte: Die Regierung zeige damit, dass sie nicht ernsthaft an einem Kompromiss mit Brüssel interessiert sei. Man könne meinen, so der Korrespondent aus Brüssel, das Ganze sei ein "Stunt", ein Showeffekt.
Die britische Regierung verfolgt, das zeigt sich jeden Tag mehr, ein ganz anderes Ziel als einen Deal mit Brüssel, auch wenn Johnson halbherzig das Gegenteil betont. Nachdem am Wochenende das gesamte Dossier bekannt geworden war, in dem die Ministerien unter dem Codenamen "Yellowhammer" die wirtschaftlichen, sozialen und sicherheitspolitischen Risiken aufzeigen, die ein No Deal mit sich bringen würde, hatte Johnson am Montag nicht etwa gesagt: Stimmt, liebe Landsleute, das wird schwierig, deshalb würden wir es gern vermeiden. Stattdessen beteuerte er, das seien alles alte Kamellen. Zwar würde ein vertragsloser Brexit womöglich "ein paar Huckel auf der Straße" in die Freiheit mit sich bringen, aber das sei alles zu managen.
Die Bevölkerung soll das Gefühl haben, No Deal sei das kleinere Übel im Vergleich zu einem Einknicken Londons gegenüber der EU. Das "Angebot" an Brüssel - eine Farce. Boris Johnson, das wurde mit dem Brief an Tusk klar, tut derzeit alles dafür, dass es zum No Deal kommt. Ausnahmsweise hat Labour-Chef Jeremy Corbyn, der am Montag eine scharfe Rede gegen Johnsons Kamikaze-Kurs gehalten hatte, einmal recht: Das Unterhaus muss jetzt alles tun, um das zu verhindern.