Abstimmung im Unterhaus:Welche Brexit-Szenarien es gibt

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  • Am Abend stimmt das Unterhaus in London über das von Premier May mit der EU ausgehandelte Brexit-Abkommen ab.
  • Die einfachste Lösung, ein Ja der Abgeordneten, gilt als die unwahrscheinlichste.
  • Im Falle einer Ablehnung ist von einem No-Deal-Brexit bis zu einem Stopp des Austrittsprozesses alles möglich.

Von Cathrin Kahlweit, London, Matthias Kolb und Alexander Mühlauer, Brüssel

An diesem Dienstag hängt alles vom britischen Unterhaus ab. Die Abgeordneten entscheiden, was aus dem Brexit-Abkommen zwischen der britischen Regierung und der EU wird, ob es scheitert oder ob genügend Abgeordnete zustimmen. Dann könnte die nächste Phase beginnen, die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen London und Brüssel. Bis zuletzt arbeitet Theresa May daran, widerstrebende Parlamentarier auf ihre Seite zu ziehen; auch die EU bemüht sich, dem Abkommen zu einer Mehrheit zu verhelfen. Denn aus der jeweiligen Entscheidung ergibt sich eine lange Reihe - teils riskanter - Folgen. Ein Überblick über das, was kommen könnte.

Das Unterhaus sagt Ja

Das wäre die einfachste Lösung, allerdings ist sie derzeit auch die unwahrscheinlichste. May bräuchte mindestens 320 Stimmen für das sogenannte Withdrawal Agreement. Wenn sie die bekommt, müsste noch das Europäische Parlament zustimmen. Das "Ja" aus Straßburg gilt als sicher und dürfte im Februar oder spätestens Mitte März erfolgen. Parallel müsste das Unterhaus noch viele Gesetze beschließen, um den 585 Seiten starken Vertrag in britisches Recht zu überführen.

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Klappt das bis zum 29. März, endet an diesem Stichtag nach 46 Jahren die britische Mitgliedschaft in der EU. In der Übergangsphase bis Ende 2020 ändert sich zunächst kaum etwas. Das Königreich bleibt Mitglied in Binnenmarkt und Zollunion, verliert aber sein Stimmrecht. Dann beginnt das schwerste Stück Arbeit: die Gespräche über ein Freihandelsabkommen. In knapp zwei Jahren einen solchen Deal auszuhandeln, gilt unter Experten als sehr ambitioniert.

Wenn dies nicht gelingt, müssen Großbritannien und die EU im Juli 2020 eine Entscheidung treffen: Wird die Übergangsfrist über den 31. Dezember 2020 hinaus verlängert? Das wäre maximal bis Ende 2022 möglich; und auch nur, wenn London weitere Milliarden in den EU-Haushalt überweist. Sollte diese Option nicht gezogen werden, würde eintreten, was alle verhindern wollen: der umstrittene Backstop, also jene Auffanglösung zur Vermeidung einer spürbaren Grenze auf der irischen Insel.

Am Ende des Verhandlungsmarathons, so der Wunsch aller Beteiligten, soll eine möglichst enge Partnerschaft der EU-27 zu London stehen. In diesem Szenario - und wenn keine Verlängerung der Austrittsfrist nötig wird - nimmt Großbritannien nicht an der Europawahl Ende Mai teil.

Das Unterhaus sagt Nein

Danach sieht es derzeit aus. May müsste sich dann innerhalb von drei Sitzungstagen, also spätestens bis kommenden Montag, mit einem Alternativvorschlag an das Unterhaus wenden. Die Abgeordneten dürften allerdings in der Zwischenzeit selbst das Heft in die Hand nehmen. Erwartet wird, dass die Parlamentarier schon Dienstag, spätestens aber von Mittwoch an über Vorlagen aus verschiedenen politischen Ecken abstimmen, um auszuloten, wo die Mehrheiten sind. Sollten sich bei der Abstimmung eher wenige Abgeordnete aus Mays eigenem Lager gegen den Vertrag stellen, also unter hundert, so könnte May versuchen, in Brüssel weitere Konzessionen auszuhandeln. Aber, wie der Thinktank Institute for Government feststellt: Wenn May weiter keine Ahnung hat, was sie alternativ will, wird das schwer.

Auf klare Ansagen warten EU-Diplomaten seit Langem und immer ungeduldiger. "London muss uns sagen, was als Nächstes kommt", sagt einer auf die Frage, wie es nach einem "No" im Unterhaus weitergehe. Eine Verschiebung des Austrittsdatums wird in vielen Hauptstädten schon eingepreist - solange dies nur bis Juli geschieht und Großbritannien nicht an der Europawahl teilnimmt. Einem entsprechenden Antrag des Unterhauses müssten alle verbleibenden EU-Staaten zustimmen. Bisher stehen die EU-27 geschlossen zusammen - ob das so bleibt, ist allerdings offen. Zu weiteren Brexit-Sondergipfeln würden die Staats- und Regierungschefs wohl widerwillig anreisen, um das Chaos eines harten Brexit abzuwenden. "Wir hatten im November einen Sondergipfel, um zu verhindern, dass wir uns genau in dieser Lage wiederfinden", seufzt ein EU-Diplomat. Die Ratlosigkeit, wie man May helfen solle, nimmt weiter zu, denn natürlich kennen alle in Brüssel die Prognosen für die Abstimmung an diesem Dienstag.

Demnach werden sich eher mehr Abgeordnete gegen May stellen, nämlich bis zu 200. Dann wäre der vorliegende Vertragsentwurf politisch erledigt. Gruppen von Abgeordneten bereiten sich auf diesen Fall seit Monaten vor, teils fraktionsübergreifend. Als Signal dafür, welche Richtung das Unterhaus einschlagen könnte, gilt ein Votum in der vergangenen Woche, das der Regierung nahelegt, keinesfalls einen "No Deal", also einen Austritt ohne Vertrag, zu verfolgen. Am Montag legte der konservative Abgeordnete Nick Boles einen Vorschlag vor, dem zufolge sich die Vorsitzenden aller Parlamentskomitees zusammensetzen und innerhalb von drei Wochen einen alternativen Fahrplan ausarbeiten würden, über den das Parlament dann abstimmen könnte. Dieser Vorschlag ist einer von mehreren, die in der britischen Presse als "Coup" des Parlaments und als Entmachtung der Regierung bezeichnet werden. Demnach würde das Unterhaus, entgegen den traditionellen Gepflogenheiten, einen Deal ausarbeiten, mit dem May nach Brüssel zurückgehen müsste.

Dies wäre ein Szenario, das die EU-27 unbedingt vermeiden wollen: Es käme zu Nachverhandlungen über den Backstop. Spekuliert wird über zwei Optionen. Brüssel könnte versichern, dass das Freihandelsabkommen mit London bis Ende 2021 steht. Die Sorge der Brexiteers, ewig an die EU gebunden zu sein, wäre zumindest ernst genommen. Denkbar wäre auch, den Backstop doch zeitlich zu begrenzen und einen Stichtag zu nennen. Dieser Forderung von May würde die EU aber nur zustimmen, wenn die irische Regierung sie akzeptiert - Dublin sieht den Backstop als Sicherheitsgarantie für den immer noch fragilen Frieden in Nordirland. Die Unberechenbarkeit der britischen Politik macht ein solches Zugeständnis aber eher unwahrscheinlich.

Im Londoner Parlament kursieren derzeit drei Konzepte für den Brexit. Hardliner plädieren für einen vertragslosen Austritt. Am Montag hatten Ex-Außenminister Boris Johnson und die ehemaligen Brexit-Minister David Davis und Dominic Raab die Abgeordneten erneut aufgefordert, einen No Deal anzustreben, damit Großbritannien keine "Kolonie der EU" bleibe. Eine zweite Gruppe wünscht sich Neuverhandlungen mit Brüssel über ein sogenanntes Norwegen-Plus-Abkommen. Norwegen nimmt am Binnenmarkt teil, ist aber nicht Mitglied der Zollunion. Mit einer solchen Lösung würde sich das Königreich dauerhaft eng an die EU binden, würde aber austreten. Variante drei ist ein Gesetz, mit dem das Parlament das Verfahren für ein zweites Brexit-Referendum in Gang setzt. Die Vorbereitungen könnten etwa ein halbes Jahr dauern.

Entsprechend müsste die Austrittsfrist verlängert werden, um das Ergebnis der Volksabstimmung abwarten zu können. Um ihr Hauptziel zu erreichen, das Chaos eines harten Brexit zu vermeiden, wären die EU-27 wohl dazu bereit - auch wenn dies schon jetzt für Kopfzerbrechen sorgt. Wenn Großbritannien über den 1. Juli 2019 hinaus, also den Tag, an dem das neu gewählte EU-Parlament zusammentritt, zur Union gehört, müsste es eine Europawahl organisieren. Andere sorgen sich wegen des Szenarios, dass britische Abgeordnete über den Chef der nächsten Kommission abstimmen - und Wochen später ausscheiden. Denkbar wäre auch, die Briten zu "Abgeordneten zweiter Klasse" zu machen - ähnlich dem Status von Parlamentariern aus Ländern, die im Laufe einer Legislaturperiode der EU beitraten. Hierfür wäre aber Einstimmigkeit erforderlich. Wie die Fragen eines zweiten Referendums formuliert wären, ist ebenso offen wie die Frage, ob eine Mehrheit für einen Verbleib in der EU stimmen oder den Deal bevorzugen würde, den May ausgehandelt hat.

Ihre Rückkehr an den Verhandlungstisch fiele allerdings flach, wenn sie durch ein Misstrauensvotum gestürzt würde. Der Chef der oppositionellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, behält sich vor, ein solches einzubringen, wenn May am Dienstag krachend scheitert. Er hofft, so Neuwahlen durchzusetzen. Allerdings werden die Erfolgsaussichten eines Misstrauensvotums als gering eingeschätzt, weil viele Tories lieber mit May weitermachen wollen, als eine sozialistische Regierung zu riskieren. Für diesen Fall erwartet niemand ernsthaft einen Rücktritt Mays. Eine Vertrauensfrage in der eigenen Fraktion hat sie im Dezember gewonnen.

Sollte es zu Neuwahlen kommen, müsste der Wahlkampf nach einer Vorbereitungsphase mindestens 25 Tage lang dauern. Für die Frage, wie der Brexit aussehen soll, wäre damit vorerst wenig gewonnen. Der 29. März als Austrittstag ist per Gesetz festgelegt. Labour traut sich zu, einen besseren Vertrag auszuhandeln. Dafür würde die Zeit bis Ende März aber nicht reichen.

Das Parlament könnte den Brexit auch beenden. Ganz abgesagt würde er aber wohl nur, wenn sich eine Mehrheit der Briten in einem zweiten Referendum anders entscheidet. Was auf Englisch "to revoke article 50" heißt, also den Austrittsprozess zu stoppen, ist aber durchaus möglich: Der Europäische Gerichtshof hat geurteilt, London könne aus dem Brexit aussteigen, ohne die EU um Erlaubnis zu bitten. Eine zweite Volksabstimmung ist zunehmend populär bei Brexit-Gegnern, auch immer mehr Abgeordnete scheinen sich dafür zu erwärmen. Der ehemalige Tory-Regierungschef John Major ist dafür, der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan und Ex-Labour-Premier Tony Blair sowieso.

© SZ vom 15.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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