Seit mehr als zwei Wochen ist Boris Palmer verschwunden. Mal sehen, was in Tübingen so los ist. Also: Die Stiftskirche steht noch. Die Tübingerinnen und Tübinger sitzen in den Cafés, sie reden, sie lachen. Mögliche Indizien für zivilen Ungehorsam findet man höchstens vor dem Technischen Rathaus, wo an diesem Spätnachmittag Studenten eine wummernde Musikbox und zwei Bierkästen vorbeischleppen - offenbar wild entschlossen, diese noch vor dem Einbruch der Dunkelheit zu leeren.
Oben im Rathaus sitzt Cord Soehlke auf der Terrasse in der warmen Abendsonne, gestreiftes Hemd, graues Jackett. Links die berühmte Tübinger Universität, in der Ferne die Kräne des Technologieparks. Der Frage, ob das überhaupt funktionieren kann - Tübingen ohne einen Oberbürgermeister Palmer -, tritt er mit großer Gelassenheit entgegen: "Alles normal hier."
Die Person Boris Palmer übt eine gewisse Faszination aus
Soehlke (parteilos) ist Palmers Stellvertreter und gerade der wichtigste Mann in der Stadtpolitik. Ein bisschen seltsam findet er die Aufmerksamkeit schon, die ihm gerade zuteilwird. Normalerweise ist es so: Das Land interessiert sich für Tübingen, weil Palmer etwas Aufregendes tut oder sagt. Weil er zum Beispiel eine viel beachtete Verpackungsteuer auf Einwegbesteck einführt. Oder weil er nicht selten einen Skandal produziert, wie zuletzt bei einer Migrationskonferenz in Frankfurt, bei der er mit einer Gruppe Demonstranten aneinandergeriet, mehrfach das N-Wort verwendete und einen Judenstern-Vergleich zog.
Deshalb hat sich Palmer im Juni eine Auszeit verordnet. Er wolle versuchen, seinen "Anteil an diesen zunehmend zerstörerischen Verstrickungen aufzuarbeiten". Palmer ist also vorübergehend außer Dienst. Und jetzt? Rufen die Journalisten bei Soehlke an und wollen wissen, was die Pause zu bedeuten habe. Für ihn? Für Palmer? Für die Zukunft?
Soehlke versteht das Interesse, er war früher selbst Journalist und weiß, dass die Person Palmer eine gewisse Faszination ausübt. Auf der Dachterrasse erzählt er, wie er vor Kurzem im Italienurlaub andere Deutsche traf. Als er erwähnte, dass er aus Tübingen kommt, hieß es gleich: "Ah, Boris Palmer." Wahrscheinlich gibt es kaum einen OB, der einer so kleinen Stadt jemals zu größerer Prominenz verholfen hat.
Andererseits hält Soehlke die Auszeit für keine allzu große Sache. Palmer hat sich Urlaub genommen - wie früher auch schon. Ungewöhnlich sei höchstens der Zeitpunkt, weil im Juni vor der Sommerpause traditionell noch einige Entscheidungen diskutiert werden müssen. Zum Beispiel, ob die Stadt sich auch in Zukunft eine eigene städtische Müllabfuhr leisten will, ein wichtiges Thema. Generell hält sich sein Mehraufwand aber in Grenzen: ein paar zusätzliche Grußworte, die Leitung von Ausschusssitzungen, solche Dinge.
Palmers Auszeit könnte für Tübingen auch eine Chance sein
Soehlke stammt aus Ostwestfalen, studierte Architektur und Stadtplanung und zog 1997 nach Tübingen. Später wurde er Projektleiter für das Französische Viertel, ein preisgekröntes Stadtentwicklungsprojekt, über das Soehlke sehr leidenschaftlich referieren kann. Vielleicht ist es auch ein gutes Beispiel, dass Tübingens Erfolg als grüne Musterkommune nicht ausschließlich auf den Verdiensten des OBs beruht.
Soehlke kennt und schätzt Palmer schon lange - auch weil er ihn öffentlich kritisieren kann, wenn er es für nötig erachtet. Soehlke sagt zum Beispiel, dass ihn der jüngste Skandal sehr geärgert habe, "unnötig" sei das gewesen. Doch bislang haben sie sich immer wieder vertragen. Auch jetzt haben die beiden sporadisch Kontakt. Soehlke weiß, dass Palmer gerade in der Stadt ist und gerne ins Café geht. Woran genau er in seiner Auszeit arbeitet, weiß sein Stellvertreter aber nicht. Will er auch gar nicht: "Ich habe mir vorgenommen, ihm seine Zeit zu lassen."
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Manche in Tübingen sagen, dass Palmer künftig ein "Oberbürgermeister auf Bewährung" sei, nur einen Fehltritt vom endgültigen Scheitern entfernt. Völliger Quatsch, glaubt Soehlke. Schon allein deshalb, weil ein OB in Baden-Württemberg nicht abgewählt werden könne. Aber natürlich sehe auch er, dass "das Eis dünner" werde.
Vielleicht, sagt Soehlke am Ende, habe die Auszeit des prominenten OBs auch etwas Gutes: Das Land könne sehen, dass die Stadt keine "One-Man-Show" sei, dass die Verwaltung funktioniere, dass das Leben weitergehe. "Tübingen besteht nicht nur aus Boris Palmer."