Großbritannien:Die Stunde der 99 Rebellen

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In Bedrängnis: Boris Johnson auf dem Weg von 10 Downing Street zum Unterhaus. (Foto: WIktor Szymanowicz/imago images/NurPhoto)

Premierminister Boris Johnson hat mit einer Revolte der Tories zu kämpfen, wie die Abstimmung über neue Corona-Regeln zeigt. Warum der Regierungschef immer stärker unter Druck gerät.

Von Michael Neudecker, London

Es ging ein Raunen durch die Kammer im Unterhaus, als der Sprecher Keir Starmer aufrief, den Labour-Chef und Oppositionsführer. Das Raunen ist nicht ungewöhnlich, Raunen und Rufen gehört zur Folklore im britischen Parlament, aber es kam einem jetzt so vor, als würde das Auftaktraunen bei Starmer parallel zur Erwartungshaltung jede Woche ein bisschen mehr.

Jeden Mittwoch um 12 Uhr steht der Premierminister Rede und Antwort, und die Lage für Johnson verschlechtert sich derzeit wöchentlich. Dieser Mittwoch nun war der letzte im Parlament vor der Weihnachtspause, vor allem war es der Tag nach jenem bemerkenswerten Abend, der für Boris Johnson nicht so schlimm verlaufen war wie befürchtet, sondern noch schlimmer.

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Die Maßnahme soll ab Sonntagmorgen bis mindestens 14. Januar gelten, sagt Ministerpräsident Rutte. 300 Passagiere müssen ihr Kreuzfahrtschiff verlassen. London ruft den Katastrophenfall aus.

Aber Keir Starmer bleibt der seriöse Sir Keir, auch, wenn Boris Johnson verwundbar erscheint. "Bringen Sie Ihr Haus in Ordnung", sagte Starmer, die britische Öffentlichkeit habe kein Vertrauen mehr in ihn, Starmer spielte dabei auf die Partys in Downing Street im Winter 2020 an, zu denen derzeit eine Untersuchung läuft; Johnson sei außerdem "der schlechteste Premierminister zum schlechtestmöglichen Zeitpunkt".

Er sagte all das wie so oft in einem Tonfall, als würde er sich bei Freunden etwas pikiert echauffieren, dass das Pint Bier schon wieder dreißig Cent teurer geworden ist. Johnson dagegen: gestikulierte, wurde laut, klopfte mit der Hand auf seine Box, an der die Redner im Unterhaus stehen, beschuldigte Starmer, mit "parteipolitischen Nichtigkeiten" daherzukommen, und wiederholte immer wieder ein paar als Fakten verkleidete Behauptungen. Man könnte auch sagen: Keir Starmer resümierte, Boris Johnson kämpfte.

Johnson sei in einer "sehr, sehr, sehr schwierigen Position", sagte ein Abgeordneter

Allerdings hat Johnson auch Grund dazu. Das britische Parlament hat in vier Abstimmungen am Dienstagabend neue Maßnahmen im Kampf gegen die Ausbreitung der Omikron-Variante beschlossen, aus deutscher 2-G-Perspektive keine besonders strengen. Der Widerstand im Parlament war groß wie noch nie in seiner Amtszeit als Premierminister, und nicht wenige in Westminster werteten das auch als Widerstand gegen Johnson.

Die Omikron-Variante sorgt derzeit für einen besorgniserregenden Anstieg der Corona-Fallzahlen, offiziell wurden am Dienstag 59 610 Neuinfizierte gezählt, so viele wie seit Januar nicht mehr. Vehement warb die Regierung daher für die vier neuen Maßnahmen: Maskenpflicht in geschlossenen Räumen, außer in Pubs und Restaurants, Schnelltests statt Selbstisolation nach Kontakt mit positiv Getesteten, ein Covid-Pass für den Besuch größerer Veranstaltungen sowie eine Impfpflicht für das Personal des nationalen Gesundheitsdienstes NHS. Vor allem der Covid-Pass, in dem entweder ein Impfnachweis oder ein negatives Testergebnis vermerkt sein soll, sorgt für viel Aufregung unter den Konservativen.

369 zu 126, das ist das offizielle Abstimmungsergebnis, mit dem der Covid-Pass beschlossen wurde - von den 126 Gegenstimmen waren 99 Abgeordnete der Tories. Alle vier Maßnahmen konnte Johnson nur mit Hilfe der Opposition durchbringen, Johnsons derzeitige Mehrheit beträgt 79 Sitze. So viele Gegenstimmen aus den eigenen Reihen, das ist eine Seltenheit, wenn der Premierminister über eine derart komfortable Mehrheit verfügt wie Johnson.

Ein "Schmerzensschrei" der Partei sei das gewesen, sagte der Tory-Abgeordnete Charles Walker mit finsterer Miene am späten Dienstagabend in die BBC-Kamera. Walker ist ein erfahrener Abgeordneter, einer von denen, die derzeit besonders sauer sind auf den Premier und Parteichef. Boris Johnson sei jetzt in einer "sehr, sehr, sehr schwierigen Position", es sei hier eine "sehr, sehr deutliche Linie im Sand gezogen" worden, sagte Walker.

Walker ist auch Vizechef des 1922-Komitees, jenes mächtigen Zusammenschlusses der Tory-Hinterbänkler also, die Johnson seit Wochen immer wieder scharf kritisieren. Johnson hatte am Dienstag noch etwa eine Stunde vor Beginn der Abstimmungen das Komitee in dessen Räumlichkeiten in Westminster besucht, um zu retten, was eigentlich nicht mehr zu retten war. Der Premierminister habe dem Anlass angemessen mit sehr ernster Stimme gesprochen, berichteten später die Reporter, die draußen vor der Tür gewartet hatten. Es nutzte nichts.

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Wenn Johnson sich nicht ändere, dann müsse im kommenden Jahr die Frage eines Führungswechsels "mit auf den Tisch", sagte Geoffrey Clifton-Brown, einer der Tory-Abgeordneten aus dem 1922-Komitee. Unter denen, die gegen die Maßnahmen stimmten, waren nicht nur Tories des extrem konservativ bis rechten Flügels, sondern Tories jeglichen Hintergrunds und Alters. "Der Premierminister ist jetzt in ernsthaften Schwierigkeiten", so formulierte es Daisy Cooper, eine Abgeordnete der Liberaldemokraten.

Viele Tories wollten wohl mit ihrem Nein zu den Maßnahmen ein Signal setzen, vorsorglich gewissermaßen: Der Brandbeschleuniger Omikron könnte für weitere Lockdowns sorgen, und genau das wollen einige Konservative um jeden Preis verhindern. Für Johnson wird das Regieren als Pandemie-Krisenmanager dadurch nicht einfacher, zumal er auch seine zweite Rolle als Party-Krisenmanager so schnell nicht los sein dürfte.

Bis Freitag will der Kabinettssekretär Simon Case das Ergebnis seiner Untersuchung zu verbotenen Partys zur Weihnachtszeit 2020 in Downing Street veröffentlichen. Dazu passend erschien die Mittwochsausgabe des Daily Mirror mit einem "außerordentlichen" Foto, wie das Blatt schrieb, auf der Titelseite. Zu sehen: 24 Menschen auf einer offensichtlich sehr geselligen Party, mitten im Lockdown-Winter 2020. Die Party fand statt im Hauptquartier der Konservativen in Westminster.

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