Silke Satjukow und Rainer Gries lehren an den Universitäten Magdeburg beziehungsweise Jena. Gemeinsam haben sie das Buch "'Bankerte' - Besatzungskinder in Deutschland nach 1945" geschrieben.
SZ: Wie viele Kinder zeugten alliierte Besatzungssoldaten mit deutschen Frauen?
Rainer Gries: Für den Zeitraum von 1945 bis 1955 kamen wir auf etwa 400 000 Kinder. Mindestens 300 000 Babys hatten sowjetische Soldaten als Väter.
Das sind große Zahlen.
Silke Satjukow: Das sind geschätzte Mindestziffern. Die tatsächliche Anzahl der Kinder dürfte auf jeden Fall höher sein. Aber wir haben es nicht darauf angelegt, Aufmerksamkeit zu erheischen. Wir haben konservativ und vorsichtig gerechnet. Unter anderem stützen wir uns auch auf Berechnungen von Bevölkerungsstatistikern.
Gries: Belastbare Zahlen findet man kaum. In Ostdeutschland waren "die Russenkinder" offiziell ein Tabuthema, da man die sowjetischen "Freunde" nicht mit diesem heiklen Problem konfrontieren konnte. Im Westen haben wir spärliche aber flächendeckende Angaben durch eine Erhebung der Bundesregierung von 1955.
Übernahmen die Siegermächte Verantwortung für die Kinder ihrer Soldaten?
Satjukow: Briten, Sowjets und Amerikaner kümmerten sich gar nicht. Überall galten die Frauen als Kriegsbeute der Soldaten. Die sowjetische Besatzungsmacht verwies auf die eigenen horrenden Verluste an Menschenleben; sie wollte daher keinerlei Verantwortung für die Frauen des Feindes und für ihre Kinder übernehmen. Auch und gerade dann nicht, wenn damit schlimmstes Unrecht - sexuelle Gewaltnahmen - verbunden waren. Die USA hatten eine andere Begründung: Für sie waren die Kinder ihrer Soldaten Privatangelegenheit der GIs und der jungen deutschen Frauen.
Gries: Nur bei den Franzosen war das anders, sie haben die Babys für die Grande Nation reklamiert. Nach ihrem juristischen und politischen Verständnis war jedes Kind eines französischen Vaters automatisch Bürger der Republik - auch die Nachkommen aus dem Land des Erbfeindes! Rechercheoffiziere kamen an die Betten der Wöchnerinnen und befragten sie peinlich. Die Mütter konnten jederzeit eine kurze Erklärung unterschreiben und die Kinder dem französischen Staat als "Enfants d'État" in Obhut geben. Sie kamen dann in ein spezielles Säuglingsheim und wurden nach einem harten Ausleseverfahren von dort nach Paris verbracht - zur Adoption. Noch heute kann man in Paris mehr als 17.000 Personaldossiers über diese Kinder einsehen.
Wie sind die Mütter mit den oft ungewollten Kindern umgegangen?
Gries: Etwa 70 Prozent der betroffenen Frauen respektive die Familien haben ihre Kinder angenommen. Das ist erstaunlich und verlangt Respekt, denn neben der gesellschaftlichen Stigmatisierung kam ja die allgemeine Notlage der Nachkriegszeit dazu. Das Land war kaputt, Essen gab es nur auf Marken und viele Menschen hatten alles verloren
Wie reagierte die Gesellschaft in West- und Ostdeutschland auf sogenannte "Bankerte"?
Satjukow: Ablehnend und diskriminierend. Die Kinder und deren Mütter hatten es sehr schwer. Das fing schon bei der Schwangerschaft an. Viele Vergewaltigte wollten abtreiben und haben dies bei den Gesundheitsämtern beantragt. Man hat dann die Frauen und ihre Bonität gecheckt, ihre Geschichte angehört und begutachtet. Nur wenn man ihnen glaubte, wurde die Abtreibung erlaubt. Das muss man sich mal vorstellen: Untersucht wurden nicht etwa die Täter oder die Taten - sondern die Opfer.
Gries: Im Osten wie im Westen sah man in den Kindern der Besatzungssoldaten "Fremdkörper". Sie galten als illegitimer Nachwuchs, als unerwünschte Kinder des Feindes. Bis in die 1950er Jahre hinein wurden sie im Alltag arg benachteiligt und ausgegrenzt. An diesen Kindern kann man sehen, wie der Rassismus der NS-Zeit den Untergang von Hitler-Deutschland überdauerte - aber auch, wie er mit diesen Kindern überwunden wurde.
Wie wirkte sich das Nazi-Gedankengut in den Köpfen der Bevölkerung auf deren Umgang mit den Kinder aus?
Gries: Ein Beispiel aus Mannheim: Anfang 1946 beriet der dortige Wohlfahrtsausschuss darüber, wie man die Kinder der US-Soldaten von der Bildfläche verschwinden lassen könnte. Eine Idee war: Nach der Geburt sollten sie von den Müttern getrennt und in einem Waisenheim untergebracht werden. Danach würde irgendwann der Zeitpunkt kommen, dass man sie alle in ihre wahre Heimat, in die Heimat ihrer Väter, nach Amerika abschieben würde.
Diese Grundidee galt auch noch während der fünfziger Jahre: Jetzt wollte man die Heranwachsenden bestens ausbilden, damit sie dereinst in ihren neuen Heimaten konkurrenzfähig sein würden. Der Alltag sah freilich anders aus: In zahllosen Berichten aus den Schulen finden sich Belege dafür, wie diese Kinder systematisch benachteiligt und diskriminiert wurden. In solchen Dokumenten finden sich schlimmste rassistische Zuschreibungen.
Satjukow: In einem Fall in der Sowjetischen Besatzungszone war eine Familie streng kommunistisch eingestellt und äußerst aufgeschlossen gegenüber der Roten Armee. Doch als die Tochter des Hauses mit einem "Russenbalg" schwanger war, kam es zu heftigen Verwerfungen.
Wie und wann verschwand die Ablehnung?
Gries: Erst in den 1960er Jahren erhöhte sich die Akzeptanz. Das lag einerseits daran, dass die Kinder älter wurden, jetzt in der Pubertät waren und begannen, selbst zu agieren, auch den Vater zu suchen. Auf der anderen Seite hatte ihr Umfeld gelernt, dass diese Kinder ja sind "wie wir": Sie hatten vielleicht eine andere Hautfarbe, aber sie sprachen und verhielten sich wie alle anderen auch. So wurden diese Verfemten zu Vermittlern, zu Medien von Liberalität und Moderne.
"'Bankerte' - Besatzungskinder in Deutschland nach 1945"; Campus Verlag, 415 Seiten, 29,90 Euro.