Antisemitismus in Belgien:"Eine unaussprechliche Tat"

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Im israelitischen Teil des Friedhofs Marcinelle in Charleroi wurden Davidsterne zerstört. (Foto: Didier Lebrun/Imago)

Im belgischen Charleroi haben Unbekannte 85 jüdische Gräber geschändet. Jüdische Bürger beklagen daraufhin eine "Explosion" antisemitischer Übergriffe und kritisieren die Regierung massiv: Sie nehme zu viel Rücksicht auf die Muslime im Land.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Anfang dieses Jahres hat sich Charleroi zur "antifaschistischen Stadt" erklärt. Politik und Zivilgesellschaft der 200 000-Einwohner-Kommune, 50 Kilometer südlich von Brüssel gelegen, verpflichteten sich dazu, gegen alle Erscheinungsformen von Antisemitismus und Rassismus sowie gegen Diskriminierung jeglicher Art zu kämpfen. Jetzt aber steht die wallonische Stadt plötzlich stellvertretend für den in Belgien weitverbreiteten Antisemitismus: Auf dem Friedhof im Stadtteil Marcinelle sind diese Woche mindestens 85 jüdische Gräber geschändet worden, wie Bürgermeister Paul Magnette am Donnerstagabend mitteilte.

Über die Täter sei bislang nichts bekannt, aber der antisemitische Kontext sei offensichtlich, sagte der sozialistische Bürgermeister, der schon Ministerämter in mehreren belgischen Regierungen innehatte. "Ich möchte den Familien, die von diesen unaussprechlichen Taten betroffen sind, meine Solidarität und Unterstützung aussprechen. Antisemitismus ist ein Übel, das wir weiterhin mit all unseren Kräften bekämpfen müssen."

"Dies ist keine gewöhnliche Schändung", sagt der Präsident des jüdischen Dachverbands

Seit den Anschlägen der Hamas auf Israel am 7. Oktober beklagt die jüdische Gemeinschaft in Belgien einen drastischen Anstieg von antisemitischen Taten. Wandschmierereien, Demonstrationen, sogar körperliche Angriffe werden gemeldet. Überall im Land melden sich Jüdinnen und Juden zu Wort und berichten, dass sie sich nicht mehr sicher fühlen.

Die Tat von Charleroi sei besonders infam, sagte Yves Oschinsky, Präsident des Dachverbands jüdischer Organisationen in Belgien, in einem Interview mit der Zeitung Le Soir. "Dies ist keine gewöhnliche Schändung. Sie zielt darauf ab, Juden ihrer Identität zu berauben, da man die Davidsterne von den Gräbern entfernt hat. Das übertrifft alle Abscheulichkeiten." Was er in Belgien derzeit feststelle, sei nicht mehr ein "Anstieg", sondern eine "Explosion" von antisemitischen Handlungen, sagte Oschinsky.

Ganz offensichtlich fühlt sich die jüdische Gemeinschaft in Belgien seit dem Terroranschlag der Hamas im Stich gelassen. Schon unmittelbar nach dem 7. Oktober beklagten sechs jüdische und muslimische Intellektuelle in einem offenen Brief, den die Zeitung La Libre veröffentlichte: Nirgendwo in Europa gebe es in Politik und Gesellschaft so wenig Solidarität mit Israel und den Juden wie in Belgien. Das Schweigen sei "ohrenbetäubend". Die belgische Politik wolle, mit Blick auf die Parlamentswahlen im Juni nächsten Jahres, offenbar die große muslimische Gemeinde in Belgien nicht verärgern, hieß. Das sei ein Verrat an den demokratischen Werten des Landes.

Der belgische Premier ist ein scharfer Kritiker Israels

Belgiens Regierungschef Alexander De Croo ist, gemeinsam mit dem Spanier Pedro Sánchez, in Europa der wohl schärfste Kritiker Israels in dem aktuellen Konflikt mit der Hamas. De Croo und Sánchez reisten diese Woche zusammen nach Israel, als Vertreter der aktuellen und der nächsten Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union. Sie warben dort in Gesprächen mit Präsident Isaac Herzog und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu für eine Friedenslösung und forderten, die "humanitäre Katastrophe in Gaza zu stoppen". Die Atmosphäre bei den Gesprächen wird angesichts der Vorgeschichte als angespannt geschildert.

Ministerpräsident Alexander De Croo wirft der israelischen Regierung "unverhältnismäßige Vergeltung" vor. (Foto: James Arthur Gekiere/AFP)

De Croo hatte der israelischen Regierung zuletzt vorgeworfen, sie übe "unverhältnismäßige Vergeltung" für den Anschlag der Hamas. Um einen einzelnen Terroristen zu töten, sei es nicht gerechtfertigt, ein ganzes Flüchtlingslager oder sogar ein Krankenhaus mit Raketen unter Beschuss zu nehmen. Für erhebliche Verstimmung zwischen Israel und Belgien sorgte auch die Weigerung des belgischen Parlaments, sich Videos von den Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober anzusehen.

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Israel wolle damit Propaganda betreiben, lautete der Vorwurf. Der israelische Außenminister Eli Cohen wehrte sich öffentlich: "Die Taten der Hamas nicht sehen zu wollen, bedeutet, Israels Recht auf Selbstverteidigung gegen eine Terrororganisation zu missachten, die schlimmer ist als der Islamische Staat." Man konnte das als besondere Spitze gegen Belgien werten. Denn das Land gilt seit Jahrzehnten als ein Zentrum des islamistischen Terrors, von hier aus agierte auch die Terrorzelle, die im Namen des IS die verheerenden Anschläge am 13. November 2015 in Paris und am 22. März 2016 in Brüssel verübte.

Immerhin hat Regierungschef De Croo, ein Liberaler, in seiner Regierungskoalition den größten Affront gegenüber Israel verhindert: einen Wirtschaftsboykott. Debattiert wurde ein Gesetz, das in Belgien den Import von Waren aus den von Israel besetzten Palästinensergebieten verbieten sollte. Die Initiative kam von den Christdemokraten und wurde unterstützt von Grünen und den Sozialisten. Zuletzt diskutierte man eine Kennzeichnungspflicht für Waren aus den besetzten Gebieten, um den Konsumenten eine "politische Wahl zu erlauben".

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