Grüne in Baden-Württemberg:Kretschmann schwört Grüne auf schärferen Asyl-Kurs ein

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"Irreguläre Migration begrenzen, reguläre Migration erleichtern": Winfried Kretschmann auf dem Grünen-Parteitag in Weingarten. (Foto: Stefan Puchner/dpa)

Der Ministerpräsident spricht sich für eine Begrenzung "irregulärer Migration" aus und bereitet seine Partei auf harte Kompromisse vor.

Von Max Ferstl, Weingarten

Kurz besteht die Hoffnung, dass die Welt zumindest in Weingarten noch in Ordnung ist. Schon der Name: ein Genuss. Clemens Moll, der Oberbürgermeister der Stadt, kann den Eindruck grundsätzlich so bestätigen, als er die grünen Delegierten im Welfensaal des Kulturzentrums bei ihrem Parteitag begrüßt. "Die gute Stube Oberschwabens" sei Weingarten, gesegnet mit einer barocken Basilika. Einmal im Jahr findet hier der berühmte Blutritt statt, die größte Reiterprozession Europas.

Es könnte also alles sehr schön sein. Doch dann sagt der CDU-Bürgermeister, dass das Idyll bedroht sei. Seine Stadt müsse sich aktuell um so viele Geflüchtete kümmern, dass es in der Kita und in der Schule keine freien Plätze mehr gebe. Die Ausländerbehörde sei mittlerweile sogar "zusammengebrochen". Weingarten, so Moll, stehe vor einer "Systemüberlastung".

Damit ist man schon beim Thema, das an diesem Wochenende über dem Landesparteitag der Südwest-Grünen schwebt. Die Bürgermeister im ganzen Land ächzen, weil sie so wenig freie Plätze für Geflüchtete haben, dass sie in Turnhallen Notunterkünfte einrichten müssen. Die Politik diskutiert, ob und wie sich Zuwanderung begrenzen lässt. Es geht um Sozialleistungen, die gesenkt werden sollen, um Geldkarten für Geflüchtete, generell um mehr Härte. Und natürlich stellt sich die Frage: Was wollen eigentlich die Grünen?

Ein neuer Ton

Die Frage berührt die Seele der Partei. 2015 sind auch deshalb viele bei den Grünen eingetreten, weil sie Geflüchtete nicht in erster Linie als Bedrohung sahen, sondern als Menschen, denen geholfen werden muss. Doch 2023 ist nicht 2015. Im Saal von Weingarten trifft man engagierte grüne Flüchtlingshelfer, die finden, dass es so nicht weitergehen könne. "Wenn wir Grüne den Turnaround nicht schaffen, verlieren wir den Anschluss an die gesellschaftliche Mitte", warnt ein sehr erfahrener Kommunalpolitiker. Zuwanderung müsse begrenzt werden, auch wenn es schmerze.

Das sieht grundsätzlich auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann so. Er hat seinen Landesverband in den vergangenen Tagen auf einen restriktiveren Kurs vorbereitet. Am Mittwoch sprach er sich im SWR für "alle Maßnahmen" aus, "die dazu dienen, irreguläre Migration einzudämmen". Eine Geldkarte für Geflüchtete? Da sei er "sehr offen". Am Donnerstag dann verabschiedete die grün-schwarze Koalition eine gemeinsame Forderung an den Bund, der zufolge eine "sinnvolle Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung" erreicht wird müsse. Das ist schon ein neuer Ton.

Als Kretschmann am Samstag im Welfensaal auf die Bühne tritt, zitiert er ausnahmsweise nicht seine Leib-und-Magen-Philosophin Hannah Arendt, sondern Max Weber. "Verantwortungsethisches Handeln" sei jetzt gefragt. Wenn es so weitergeht, werde die "Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft" überfordert. Die aktuelle Krise habe "die Wucht, unser demokratisches Gemeinwesen zu erschüttern".

Einige klatschen demonstrativ nicht

Kretschmann sagt, dass Baden-Württemberg mehr Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen habe als ganz Frankreich. Und dass es schon jetzt schwer genug werde, all jene unterzubringen, die tatsächlich ein Recht auf den Aufenthalt haben. Dann kommt er zum Kern seiner Rede, zu seiner Strategie: "Irreguläre Migration begrenzen, reguläre Migration erleichtern." Kretschmann deutet an, dass die Situation den Grünen noch bittere Kompromisse abfordern werde. Er empfehle, sich darauf einzulassen. Applaus im Saal, allerdings klatschen einige demonstrativ nicht.

Im Vorfeld gab es in Kretschmanns Umfeld die Befürchtung, dass die Debatte auf dem Parteitag heftig werden könnte. Realos gegen Anhänger der reinen Lehre, der alte Konflikt. Doch abgesehen von Kretschmann hält sich der Realo-Flügel in Weingarten auffällig zurück. Lauter sind die Grünen, die finden, dass die Grünen ihren Markenkern aufgeben, wenn sie das Wort "Begrenzung" in den Mund nähmen.

Das Applaus-O-Meter schlägt besonders weit aus, als Pascal Haggenmüller, der wiedergewählte Ko-Landesvorsitzende, leidenschaftlich dafür wirbt, dass "Willkommenskultur Abschottung" schlage. Oder als Elly Reich, die Sprecherin der Grünen Jugend, sagt, dass die Landesregierung die "falsche Richtung" eingeschlagen habe, auch die Diskussion um Geldkarten bringe niemanden weiter. Die Grünen liefen Gefahr, in eine "rechte Eskalationsspirale" zu geraten. Am Ende bleibt der befürchtete Kampf aus. Doch die Konfliktlinie ist nicht zu übersehen.

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Die Migrationsdebatte trifft die Grünen in einer komplizierten Phase. Die Partei befindet sich in einem hartnäckigen Formtief. Die Ergebnisse bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen waren enttäuschend, das Erscheinungsbild der Ampel im Bund ist anhaltend mies. Die jüngste Umfrage sieht die Grünen selbst in Baden-Württemberg, wo immerhin der erste und bislang einzige grüne Ministerpräsident der Republik regiert, bei gerade einmal 22 Prozent, sieben Punkte hinter der CDU.

Zumindest beim Ministerpräsidenten kann man die Sorge heraushören, dass die Grünen zurück in die Nische fallen, aus der sie eigentlich so dringend raus wollen. Nicht alles daran ist selbstverschuldet. Den Grünen sei im Wahlkampf aller mögliche Unfug unterstellt worden, sagt Kretschmann: ein Luftballonverbot, das Fleischverbot, ein Faible für Insekten als Grundnahrungsmittel. Aber, und das sei das Problem: Teile der Bevölkerung "trauen uns das zu". Er empfahl, den Menschen mehr zuzuhören. Man darf davon ausgehen, dass damit auch die Klagen überforderter Bürgermeister gemeint sind.

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