Baden-Württemberg im Wahlkampf:Manöver auf den letzten Metern

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Stunden vor der möglichen Zeitenwende: Bis zum Schluss werben der grüne Spitzenkandidat und sein SPD-Rivale auf den Straßen um Stimmen. CDU-Ministerpräsident Mappus kontert mit einer Last-Minute-Kampagne.

Michael König, Stuttgart

Das wichtigste Wochenende im politischen Leben des Nils Schmid beginnt mit Rindenmulch. 70 Liter für acht Euro. Vor dem örtlichen Supermarkt in Pliezhausen, 30 Autominuten von Stuttgart entfernt, stapeln sich die Säcke. Davor steht der Spitzenkandidat der SPD und knöpft seinen blauen Parka zu. Es ist sein erster Termin an diesem Samstag, vier weitere folgen. Dann ist der Wahlkampf zu Ende. Dann dauert es nur noch weniger als 24 Stunden, bis am Sonntag die Wahllokale schließen. Und bis Nils Schmid womöglich als neuer Ministerpräsident von Baden-Württemberg feststeht.

Die Landtagsspitzenkandidaten der größeren Parteien beim TV-Duell (v.l.): Roland Hamm (Linke), Nils Schmid (SPD), Winfried Kretschmann (Grüne), der baden-württembergische Justizminister Ulrich Goll (FDP) und Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) (Foto: dpa)

Oder Winfried Kretschmann, als erster Grüner überhaupt. Auch der 62-Jährige ist am Samstag unterwegs, sein letzter Wahlkampftermin führt ihn nach Nürtingen. In der Fußgängerzone drängeln sich die Menschen. Eine ältere Frau mit goldenem Brillengestell wartet zehn Minuten, um Kretschmann die Hand zu schütteln: "Wenn er erst im Amt ist, hat er dafür bestimmt keine Zeit mehr", sagt sie.

Ein Familienvater in Funktionsjacke beobachtet die Szene, seine Haare sind ordentlich zur Seite gescheitelt, seine Brille hat keinen Rand. Er sei Immobilienmakler, erzählt er. "Mein Vater hat mir früher mit Enterbung gedroht, wenn ich Grün wähle. Aber jetzt ist er selbst so weit."

Die Baden-Württemberger wollen die Wende und Kretschmann oder Schmid als neuen Ministerpräsidenten - das behaupten zumindest die Demoskopen. Gemeinsam kommen SPD und Grüne in der jüngsten Umfrage vor der Wahl auf 48 Prozent, CDU und FDP auf 43. Bleibt es dabei, wären 58 Jahre CDU-Herrschaft in Baden-Württemberg beendet. Aber ob es tatsächlich so passiert, ist längst nicht sicher.

Sozialdemokrat Schmid bekommt das in der 10.000-Einwohner-Gemeinde Pliezhausen zu spüren. 20 Menschen sind da, um ihn zu sehen. Schmid spricht von "echter Wechselstimmung", aber einige ältere Männer wollen "nur mal schauen, wie der Neue ausschaut." Der Neue? "Na, der von der SPD." Eine Frau geht auf Schmid zu und will von ihm wissen, ob er Privatschulen fördern wolle. Schmid antwortet ausführlich, dann schlägt er das Regierungsprogramm auf: "Hier Seite 22, zum Nachlesen."

Die Frau blickt ihn skeptisch an, ihren Sohn hält sie an den Schultern fest. "Gut", sagt sie. "Meine Stimme haben sie dann wohl."

"Keinen Fettnapf ausgelassen"

Nie zuvor sei es ihm so schwer gefallen, eine Partei auszuwählen, gibt ein Familienvater zu, dessen Tochter sich begeistert mit SPD-Devotionalien ausrüstet. Eigentlich sei er ein Liberaler, "aber die haben ja auch kein Fettnäpfchen ausgelassen". Die "Verlogenheit" von CDU und FDP widere ihn an, sagt er. Diesmal setzt er auf Rot-Grün: "Wenn sie es bei dieser Wahl nicht schaffen, können sie den Laden gleich zumachen."

Tatsächlich hätte es für SPD und Grüne zuletzt kaum besser laufen können. Die Atomkatastrophe in Japan, die energiepolitische Kehrtwende von Union und FDP sowie zuletzt der Fauxpas von Bundeswirtschaftsminister Brüderle, der das AKW-Moratorium mit dem Wahlkampf begründete - "Sie können sich nicht vorstellen, was bei uns los war", sagt ein SPD-Wahlkämpfer freudig.

Nun, am Tag vor der Wahl, liefert sogar der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler Munition für Rot-Grün: Der angegrünte Konservative fordert eine Volksabstimmung über die Atomkraft in Deutschland. Die würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Ungunsten der schwarz-gelben Bundesregierung ausgehen.

Geißler ist seit der Schlichtung im Konflikt um Stuttgart 21 in Baden-Württemberg in aller Munde. Die Gegner des Bahnhofsprojekts trommeln bis zum Schluss für die Abwahl von Schwarz-Gelb. Mitten auf dem Schlossplatz in Stuttgart wollen sie am Sonntag eine "Mappschiedsparty" feiern - mit Hochrechnungen auf Großleinwand und einer Live-Band. Auf der Internetseite der S21-Gegner werden bereits Musikwünsche geäußert. Ganz vorne mit dabei: "Wind of Change" von den Scorpions.

Die Vorfreude auf eine historische Nacht ist groß. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik könnte es einen grünen Ministerpräsidenten geben. Oder Baden-Württemberg bekommt einen SPD-Mann als Landesvater, was in der Geschichte des Landes ebenfalls ein Novum wäre.

Historisch aber wäre die Wahl selbst dann, wenn es CDU und FDP doch noch einmal packen würden und Stefan Mappus Ministerpräsident bliebe. Er könnte bis in alle Ewigkeit darauf verweisen, den widrigsten Umständen getrotzt zu haben. Das Wahlrecht in Baden-Württemberg könnte ihm dabei helfen: Es begünstigt diejenige Partei, die sich in den meisten Wahlkreisen durchsetzt. Das wird wohl auch diesmal die CDU sein.

Sagenhaftes Mobilisierungspotential

Die Konkurrenz fürchtet außerdem das sagenhafte Mobilisierungspotential, dass angeblich in der CDU steckt. Bis zu fünf Prozentpunkte seien noch zu holen, heißt es. Die Partei hat ihren Wahlkampf zuletzt noch einmal intensiviert: Auf Plakaten und in Werbespots geht es jetzt nicht mehr um Stefan Mappus, sondern um Baden-Württemberg als wirtschaftliches Musterländle. "Stark bleiben!", heißt es. Und: "Was auf dem Spiel steht".

Der Ministerpräsident wird nicht müde, in Interviews seine Erfolgsbilanz zu wiederholen und vor "Grün-Rot-Dunkelrot" zu warnen: Baden-Württemberg drohten "so chaotische Verhältnisse wie in Nordrhein-Westfalen", falls SPD und Grüne mit der Linken regierten.

Selbst Stuttgarts schwer kranken Alt-Oberbürgermeister Manfred Rommel spannt die CDU ein. Der 82-Jährige, der seit vielen Jahren an Parkinson leidet, schreibt vom Ende des Lebens - und machte zugleich Werbung für die CDU. Die Wahl-Anzeige des Sohnes von Generalfeldmarschall Erwin Rommel ist an diesem Samstag in allen großen Zeitungen im Südwesten erschienen.

Ob prominente Polit-Veteranen und das Szenario vom linken Ländle beim Wähler Eindruck machen? SPD-Spitzenkandidat Schmid übt sich in demonstrativer Gelassenheit, während er in Pliezhausen Autogramme schreibt: "Die CDU ist desillusioniert und verunsichert", sagt er.

Kretschmann gibt sich bei seinem letzten Termin in Nürtingen nachdenklicher: "Die Leute haben genug von Mappus, aber sie haben vielleicht auch Bedenken. Letztlich kommt es darauf an, ob das Genughaben überwiegt." Dann stellt er sich mit zwei kleinen Kindern für ein Erinnerungsfoto auf und sagt den Schlusssatz seiner Kampagne: "Warten wir es einfach ab. Jetzt hat der Souverän das Wort."

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