Außenansicht:Merkels Schaukelpolitik

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Günter Verheugen, 74, war viele Jahre EU-Kommissar in Brüssel. Heute ist er Honorarprofessor für Europäisches Regieren an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). (Foto: dpa)

Die deutsche EU-Politik wirkt diffus und konzeptionslos. Bundeskanzlerin Merkel schweigt angesichts der entscheidenden Fragen.

Gastbeitrag von Günter Verheugen

Europa stehe am Scheideweg, mahnte die Bundeskanzlerin jüngst in München. Damit griff sie auf die Formulierung zurück, die sie 2010 im Bundestag in der Debatte zur griechischen Staatsschuldenkrise benutzt hatte. Tatsächlich haben wir es anhaltend mit einer dramatischen Situation zu tun, welche die EU in ihren Grundfesten erschüttert: Es gibt keinen Konsens darüber, mit welchen Hauptaufgaben die EU heute konfrontiert ist, wohin die Reise gehen soll, wie die multiplen Krisen gelöst werden können. Hinzu kommt eine tiefe Störung im transatlantischen Verhältnis. Dann ist da noch der Brexit, ein radikaler Einschnitt, der bis heute völlig unterschätzt wird. Die von deutscher Handschrift geprägten EU-Rettungsaktionen der letzten Jahre haben ernste Zweifel an der europäischen Orientierung bundesdeutscher Politik aufkommen lassen. Das Grundvertrauen in die Lösungskompetenzen der EU ist zutiefst erschüttert.

Vor diesem Hintergrund wirken Merkels europapolitische Vorstellungen, die sie zunächst im Interview mit der FAS öffentlich machte, diffus und konzeptionslos. Es beginnt damit, dass die Kanzlerin Europa und EU unentwegt synonym verwendet und so die Frage der notwendigen Friedenssicherung in Europa allein auf das Gebiet der EU begrenzt. Tatsächlich ist die Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung aktueller denn je, die Gefahr einer atomaren Vernichtung der Menschheit aufgrund der extremen Konfliktlage zwischen dem Westen und Russland größer geworden. Doch die Kanzlerin verengt die außenpolitischen Herausforderungen auf die Zusammenarbeit mit Afrika.

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Lediglich in einem Interview antwortet die Kanzlerin auf Macrons Visionen für die Erneuerung der EU. Das ist zu wenig. So können beide zusammen nicht das Gefühl vermitteln, dass es ihnen ernst ist mit dem Neuanfang.

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Offenbar kann oder will Merkel nicht die alles entscheidende Frage beantworten: Was bedeutet es, wenn die EU zum eigenständigen globalen Akteur werden soll? In welchem Verhältnis steht sie dann zur "Supermacht USA"? Was ist eine multipolare Welt mit einer Supermacht? Es kann für die EU doch nur um Augenhöhe gegenüber allen Polen und also auch zum Bündnispartner jenseits des Atlantiks gehen, also um eine EU, die dort, wo es nottut, siehe Iran, zur erfolgreichen Verteidigung eigener Interessen in der Lage ist. Merkel versucht es mit einer Schaukelpolitik: ein Stück weit Ja, ein Stück weit Nein.

Es reicht nicht aus zu betonen, dass die EU wieder wächst

Sie beruft sich auf ein breites Sicherheitsversprechen, das die EU erfüllen müsse: eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik, eine gemeinsame Asylpolitik, eine gemeinsame Entwicklungspolitik, aber auch Wohlstandssicherung und Arbeitsplätze. Merkwürdigerweise ist die Kanzlerin beim letztgenannten Thema am schmallippigsten. Es reicht nicht aus zu betonen, dass die EU wieder wächst. Andere wachsen schneller, andere sind innovativer. Die Arbeitslosigkeit, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit, bleibt eine schwere Belastung, vor allem im Süden der EU. Der Abstand zu den USA wird nicht geringer, sondern wieder größer.

Hierfür hat die Kanzlerin keine Rezepte parat. Ihre Vorschläge zeigen, dass auch sie nicht weiß, wie das grundlegende Dilemma, die bestehenden dramatischen wirtschaftlichen Ungleichgewichte, überwunden werden soll. Auf der einen Seite das Binnenmarktkonzept, das alle, Schwächere und Leistungsstärkere, in ein unflexibles Regelwerk presst. Auf der anderen Seite die gemeinsame Währung, die durch den Wegfall des Wechselkursmechanismus schwächere EU-Länder zum Ausgleich durch soziale Einschnitte zwingt und mit der Sparpolitik künftiges Wachstum auch noch wegspart.

Also beschränkt sich Merkel aufs Fiskalische: Ein Mini-Budget und die Bankenunion (irgendwann) sollen es richten. Dabei liegt inzwischen auf der Hand, dass selbst dreistellige Milliardentransfers nicht reichen, dem Teufelskreis aus Schulden, Sparen, Sozialabbau zu entrinnen. Kein Wort dazu, dass Deutschland mit seinen Exportüberschüssen selbst Teil der Verwerfungen in der Euro-Zone ist.

Bizarr ist der in Aussicht genommene Umbau des Europäischen Stabilitätsmechanismus in einen zwischenstaatlichen "Europäischen Währungsfonds". Der würde Beistand leisten im Krisenfall, die Reformpolitik der betroffenen Länder kontrollieren, ohne dass man sich noch mit dem nervigen IWF befassen müsste, der seit drei Jahren die Entschuldung Griechenlands für zwingend hält.

Ad acta gelegt ist der Traum vom ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat. Dahin die Forderung, die Briten und Franzosen mögen ihre Sitze "europäisieren". Stattdessen der Gedanke, einen europäischen Sicherheitsrat in außenpolitischen Fragen zu schaffen. Durchdacht ist diese Idee nicht; offen bleibt die Frage, wen man dann im Zweifel anrufen sollte. Natürlich behält sich Merkel die Einstimmigkeit im Europäischen Rat vor, wo die außenpolitisch wichtigsten Fragen besprochen werden. Wie man das mit der richtigen Forderung zusammenbringen will, dass die EU mit einer Stimme sprechen soll, bleibt ein Rätsel.

Wer Fluchtursachen bekämpfen will, muss zuvorderst dem Krieg den Krieg erklären

Was die Zukunft der Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik der EU angeht, ist ebenfalls keine klare Linie erkennbar. Zumal die Bundeskanzlerin alles unter "irregulärer Migration" subsumiert. Das verschleiert, dass die allermeisten Menschen, die in die EU zu gelangen suchen, aus Kriegsgebieten stammen: Syrien, Afghanistan, Irak. Wer also Fluchtursachen bekämpfen will, muss zuvorderst dem Krieg den Krieg erklären. Das Denken der Kanzlerin kreist darum, wie man Grenzen dichtmacht und möglichst viele andere zur Aufnahme von Flüchtlingen bewegt, wie etwa im Falle der Türkei. Still und leise hat Frau Merkel ein deutsches Lieblingsthema abgeräumt: obligatorische Quoten zur "solidarischen" Verteilung von Flüchtlingen. Sie hat inzwischen verstanden, dass obligatorische Quoten die EU sprengen.

Sie will Zeit gewinnen, beschwört den Kompromiss. Wie der aussehen könnte, sagt sie nicht. Eine europäische Interventionstruppe, eine Idee von Frankreichs Präsident Macron, findet Merkel gut. Mehr Gemeinsamkeit im Militärischen sowieso. Man fragt sich, wie sich die "gemeinsame militärische Kultur" entwickeln soll: mit der Nato, als europäischer Pfeiler der Nato oder gänzlich separat? Wer würde eine Intervention beschließen? Fatal ist, dass Merkels Interview als Antwort auf Macron angesehen wird. Aber eine deutsche Führungsverantwortung in der EU erschöpft sich nicht in einer Replik auf Vorstellungen aus Paris. Sie muss die Interessen und Sichtweisen aller aufgreifen, von Rom über Madrid und Warschau oder von Lissabon bis Tallinn. Dass das nicht passierte, offenbart, in welchem Zustand sich deutsche EU-Politik derzeit befindet. Aber seien wir gutmütig. Betrachten wir das alles als eine erste Trainingseinheit. Frau Merkel ist erst in der vierten Amtsperiode und die Zukunft der EU quasi Neuland.

© SZ vom 12.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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