Auschwitz-Überlebende Miková über Erinnerungskultur:"Eines darf nicht passieren: Dass man lästig wird"

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Am Jahrestag der Machtergreifung Adolf Hitlers wurde die Pragerin Lisa Miková mit ihrer jüdischen Familie ins KZ deportiert. Im Interview erklärt die 90-Jährige, wie deutsche Schulkinder reagieren, wenn sie von Auschwitz erzählt - und was sie für die Zeit erwartet, wenn sie und die übrigen Zeitzeugen gestorben sind.

Von Oliver Das Gupta, Prag

Lisa Miková kam 1922 in Prag zur Welt. In ihrer weitgehend säkularen jüdischen Familie wurde Deutsch und Tschechisch gesprochen. Die Deutschen ermordeten ihre Eltern und andere Familienmitglieder, Lisa Miková und ihr Ehemann František überlebten mehrere Konzentrationslager.

Heute vor 80 Jahren gelangte Adolf Hitler in Deutschland an die Macht und errichtete die nationalsozialistische Diktatur. Für Miková hat der 30. Januar aus einem anderen Grund eine besondere Bedeutung: Vor 71 Jahren wurde sie mit ihrer Familie ins KZ Theresienstadt deportiert, später ins Vernichtungslager Auschwitz.

Was Lisa Miková durchlebte, und wie sie überlebte, schildert sie immer wieder tschechischen und deutschen Schülern. Die agile Seniorin engagiert sich unter anderem in der Stiftung Brücke/Most, die sich für die deutsch-tschechische Verständigung einsetzt.

Miková lebt bis heute in ihrer Wohnung in der Prager Altstadt. Dort fand das folgende Gespräch statt.

"Selektion" an der Rampe von Auschwitz: die SS sucht sich einigermaßen kräftige Menschen aus, um sie als Arbeitssklaven zu schinden. Die anderen, vor allem Alte, Kranke und Kinder, schicken die schwarzuniformierten Nazis direkt in die Gaskammern. Das Foto entstand am 27. Mai 1944. (Foto: AFP)

SZ.de: Frau Miková , Sie berichten Jugendlichen von Ihren Erlebnissen in Konzentrationslagern. Haben Sie das Gefühl, dass an deutschen Schulen das Thema ausreichend behandelt wird?

Lisa Miková: Auf jeden Fall kennen sich deutsche Jugendliche oft besser aus als andere, die ich getroffen habe. Amerikanische Schüler wissen so gut wie nichts über die Judenverfolgung der Nazis. Letztendlich hängt es von der Schule und den Lehrern ab: Inwieweit und in welcher Form darüber gesprochen wird, was während des Zweiten Weltkrieges passiert ist. Im ehemaligen Konzentrationslager Theresienstadt veranstalten wir Seminare für tschechische Lehrer. Es ist erstaunlich, wie wenig manche Teilnehmer von der Zeit wissen, bevor sie zu uns kommen. Dabei wird es genau von ihnen abhängen, ob die Erinnerung an die dunkle Zeit wachgehalten wird.

Wie reagieren deutsche Schulkinder, wenn Sie von Auschwitz erzählen?

Es gibt immer einige, die unerhört interessiert sind und Fragen stellen. Das sind aber meistens nur drei, vier Kinder. Der Rest ist still und passiv. Das erlebe ich übrigens auch an tschechischen Schulen. Ich kann verstehen, dass die meisten verstummen, wenn sie hören, was ich ihnen erzähle. Es ist oft eine Sache des Alters: Ein 17-Jähriger kann anders damit umgehen als ein 15-Jähriger.

Was für Fragen stellen Ihnen 15-Jährige?

Zum Beispiel absurde Sachen wie: "Haben Sie Hitler gesehen?" Es ist einfach eine andere Entwicklungsstufe.

Was ist Ihnen inhaltlich besonders wichtig?

Die Bandbreite der Nazi-Verfolgung ist vielen gar nicht bekannt. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Nazis nicht nur uns Juden verfolgt und ermordet haben. Da waren die Roma und die Homosexuellen, da waren die politischen Gefangenen und viele andere. Sicher, die Juden waren die größte Opfergruppe. Aber wir dürfen Geschichte nicht reduzieren, sonst reduzieren wir die Lehre, die die Menschheit aus der Nazi-Zeit ziehen soll. Umgekehrt darf auch die Rolle der Judenvernichtung nicht kleingeredet werden. An manchen Orten passiert das. Fragen Sie mal in Polen herum, dort steht das Schicksal der Juden nicht gerade im Mittelpunkt.

Sind Sie enttäuscht, wenn Sie mit Unwissen oder Desinteresse konfrontiert werden?

Für die meisten Menschen, die weder Opfer, noch Täter in ihren Familien haben, dominiert die Nazi-Zeit nicht. Ich möchte Ihnen eine Sache erzählen: Mein Mann hatte einen Onkel, der als österreichischer Soldat im Ersten Weltkrieg in Oberitalien gekämpft hat. Die Gefechte forderten viele Menschenleben, es hieß, der Fluss Piave war rot vom Blut. Als nach dem Krieg der Onkel zu Besuch kam, wollten mein Mann und sein Bruder oft verschwinden, weil sie wussten: Jetzt geht es wieder los mit der Piave. Es war sein großes Erlebnis, sein Trauma, auf das er immer wieder zurückgekommen ist. Mein Mann sagte, nachdem wir das KZ überlebt hatten: Wie mit dem Onkel dürfe es nicht werden. Eines darf nicht passieren: Dass man lästig wird.

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Haben Sie nach dem Krieg offen über die Zeit im Konzentrationslager gesprochen?

Nein. Mein Mann und ich haben so wenig wie möglich davon geredet. Sondern meistens nur, wenn wir angesprochen wurden. Auch unserem Sohn haben wir erst die Wahrheit gesagt, als er 15 wurde. Er fragte vorher immer: "Warum habe ich keine Großeltern? Warum habe ich keine Tanten und Onkel?"

Binden Sie Nachkommen von Holocaust-Überlebenden bei der Erinnerungs-Arbeit mit ein?

Wir versuchen es, aber es ist schwierig. Unsere Kinder kennen unsere Vergangenheit, sie besuchen auch Veranstaltungen. Aber ich glaube, sie werden nicht an Schulen gehen, das macht auch wenig Sinn.

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Warum nicht?

Wenn Schüler die Kinder von Holocaust-Überlebenden nach Details fragen, werden sie nicht in der Lage sein, zu antworten. Sie waren ja nicht dabei. Das Plus der Zeitzeugen ist ihre Authentizität. Machen wir uns nichts vor: In ein paar Jahren sind wir alle tot, dann ist diese Form von Geschichtsvermittlung eben zu Ende.

Wie präsent wird der Genozid an den europäischen Juden im kollektiven Gedächtnis bleiben?

Ich denke, es wird sich so ähnlich verhalten wie mit dem Ersten Weltkrieg. So wie meine Generation davon von den Eltern erzählt bekam, so werden auch die Schrecken des Zweiten Weltkrieges weitergegeben. Aber das Interesse und das Wissen werden deutlich nachlassen. Ich persönlich mache mir keine Illusionen.

Was bleibt, wenn Sie und die anderen Zeitzeugen nicht mehr da sind?

Videos, Dokumentationen im Fernsehen und Bücher, die immer weniger gelesen werden. Es ist so viel zu dem Thema erschienen. Es gab auch eine Zeit, zu der alle Überlebenden dachten, ihr Erlebnis sei einzigartig. Aber das meiste, was ich gelesen habe, ähnelt sich. Selbstverständlich ist jeder Leidensweg etwas anders, aber die pure Masse an Publikationen bedeutet nicht, dass sie große Wirkung erzielt.

Sie sind also pessimistisch, Frau Miková ?

Das würde ich nicht sagen. Ich bin nicht pessimistisch, ich bin realistisch.

Lisa Miková hat 2010 bei SZ.de über ihre Erlebnisse im Vernichtungslager Auschwitz berichtet, ihr Protokoll "Frauen mit Brille? Ins Gas" findet sich hier.

Morgen feiert Lisa Miková ihren 91. Geburtstag.

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