Das Politische Buch:Von Menschen und Mengenlehre

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Leave no one behind: Lasst niemand zurück. Demonstration in München im Jahr 2021 für eine menschliche und gerechte Flüchtlingspolitik. (Foto: Sachelle Babbar /Imago)

Zwei völlig unterschiedliche Bücher zu Europas Asylproblem: Franziska Grillmeier lässt Geflüchtete auf der Insel Lesbos sprechen, Ruud Koopmans plädiert für eine restriktive Flüchtlingspolitik.

Von René Wildangel

Unterschiedlicher können zwei Bücher über ein Thema nicht sein. Franziska Grillmeier beschreibt atmosphärisch die dramatischen Zustände auf der Insel Lesbos seit 2018. In "Die Insel" sprechen die Geflüchteten selbst, über ihre Traumata, es geht um ihre individuellen Schicksale. In der "Asyl-Lotterie" sind die Flüchtlinge Teil der Mengenlehre jener Statistiken, die Ruud Koopmans unablässig zitiert, um das große Ganze zu erklären, und sie sind auch eigentlich immer Teil der sogenannten "Flüchtlingskrise".

Diese zu analysieren, inklusive ihrer wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und gesellschaftlichen Risiken, wie es Koopmans ausführlich tut, ist sicher von Bedeutung. Allerdings will das Buch des Leiters der Abteilung Migration, Integration und Transnationalisierung am Berliner Wissenschaftszentrum mit dem ziemlich polemischen Titel "Die Asyl-Lotterie" erklärtermaßen etwas anderes, nämlich nicht die "Flüchtlingskrise", sondern die Krise des europäischen Asylsystems beleuchten, das - so stellt Koopmans zutreffend fest - den moralischen Anspruch, politisch Verfolgte zu schützen, längst nicht mehr leisten kann.

Ruud Koopmans: Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukrainekrieg. Verlag C.H. Beck, München 2023. 269 Seiten, 26 Euro. E-Book: 19,99 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Er macht gleich zu Beginn deutlich, woran seiner Meinung nach dieses System krankt: Es lasse Schutzbedürftige im Stich und "zwinge sie, einen lebensgefährlichen Weg auf sich zu nehmen, um Europa zu erreichen". Es seien nur wenige dieser Ankommenden "politisch Verfolgte im klassischen Sinne", vielmehr seien sie geflohen vor Bürgerkriegen oder drohendem Kriegsdienst, oder sie seien Wirtschaftsmigranten. Zudem handele es sich überdurchschnittlich oft um junge Männer, die die beschwerliche Reise auf sich nehmen könnten. Diese würden zu "großzügig" (das in diesem Zusammenhang ziemlich zynisch wirkende Wort benutzt Koopmans mehrfach) geduldet, stattdessen sollte Europa Schutzbedürftige aufnehmen, die derzeit gar keine Möglichkeit hätten, nach Europa zu kommen.

Grillmeier dokumentiert das Elend vor Ort

Die freie Journalistin Franziska Grillmeier setzt aus eigener Anschauung andere Schwerpunkte: Sie dokumentiert, wie Europa selbst die Lebensgefahren einer Flucht auf dem Wasser und an den Landgrenzen organisiert und inszeniert, um Geflüchtete gezielt abzuschrecken - mit oft grausamen und traumatisierenden Folgen. In verschiedenen Reportagen, die sie für das Buch stimmig zusammengeführt hat, wird das auf äußerst deprimierende Weise lebendig: Ob an der kroatisch-bosnischen, an der türkisch-griechischen oder der belarussisch-polnischen Grenze, die Mechanismen der Abschottung, die Grenzanlagen, die brutale Polizeigewalt, die völkerrechtswidrigen Pushbacks, die Kriminalisierung von Helferinnen und Helfern ähneln sich.

Ebenso die Tendenz, Menschen in abgeschlossene Lager wegzusperren. Eindringlich dokumentiert Grillmeier diesen Prozess auf den griechischen Inseln und am berüchtigten Lager Moria auf Lesbos. Dort herrschen unmenschliche Bedingungen, ohne Mindeststandards der Hygiene und Gesundheitsversorgung, ohne Privatsphäre, ohne Perspektive für die Weiterreise, ohne Würde. Moria retraumatisiert seine Bewohner, unter ihnen viele Kinder, die nicht nur zu Hause, sondern auch auf ihrer Reise schon vielfach schreckliche Erfahrungen machen mussten. Die Zustände ermüden auch die lokale Bevölkerung, deren ursprüngliche Hilfsbereitschaft aufgrund des politischen Versagens oftmals in Feindseligkeit umschlägt - bis schließlich rechtsradikale Mobs anreisen und Moria brennt, wahrscheinlich angezündet von verzweifelten Bewohnern. Neue, von der Bevölkerung abgeschottete Lager sollten das Problem lösen, in denen die Geflüchteten wie in Gefängnissen weggesperrt werden, die sie nur für einige Stunde am Tag verlassen dürfen.

Katastrophe in der Katastrophe: Im September 2018 brannte das berüchtigte Flüchtlingslager Moria. (Foto: Angelos Tzortzinis/AFP)

Außer den so wichtigen investigativen Recherchen ist das größte Verdienst der Autorin, dass sie die Geflüchteten selbst sprechen lässt. Viele entscheiden sich, aufgrund der eigenen traumatischen Fluchterfahrungen anderen zu helfen oder das Geschehene zu dokumentieren: als Ärztinnen und Pfleger, als Erzieher, als Journalistinnen, als Filmemacher. Diesen Persönlichkeiten, die selten im Mittelpunkt stehen, setzt Grillmeier ein Denkmal. Es ist ein persönliches, poetisches Buch, das das moralische Versagen Europas eindrucksvoll dokumentiert.

Von all dem erfährt man bei Koopmans erstaunlicherweise recht wenig. Die Kriminalisierung der Helfer, die Verhinderung von Seenotrettung, die Zustände in den Lagern werden nicht oder nur am Rande erwähnt. Erstaunlich sind auch die Vorbilder, die der Autor heranzieht: die "proaktive, planmäßige Flüchtlingspolitik von Kanada, den Vereinigten Staaten, Australien und zum Teil auch Großbritannien". Koopmans hält die harte Kritik an Ländern wie Großbritannien, deren aktuelle Asylpläne gerade von den Vereinten Nationen als schwerwiegende Verletzung internationalen Rechts kritisiert wurden, für überzogen. Denn deren brachiale Abschreckung verhindere, dass noch mehr Menschen auf gefährlichen Fluchtrouten sterben würden.

Franziska Grillmeier: Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas. Verlag C.H. Beck, München 2023. 220 Seiten, 24 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Koopmans hat natürlich recht, wenn er die hohen Todesraten auf dem Mittelmeer beklagt - sie seien so hoch wie jene im syrischen Bürgerkrieg, rechnet er aus. Allerdings sind nicht nur die mafiösen Schlepper-Netzwerke, die Koopmans als Kern des Problems ausmacht, dafür verantwortlich, sondern auch eben jene Politik der "Abschreckung". Die aktive Verhinderung von Seenotrettung und die systematische Zurückweisung ("Pushbacks") von Flüchtlingen sind Teil des politischen Kalküls. In unzähligen Fällen könnten die Tode verhindert werden - von der EU und ihren Mitgliedstaaten selbst. Die Praxis der Pushbacks ist eindeutig völkerrechtswidrig, nicht "zweifelhaft", wie Koopmans schreibt.

Koopmans "Utopie": mehr Abschiebungen

Im letzten Kapitel seines Buches entwirft Ruud Koopmans eine "realistische Utopie" und legt Lösungsansätze vor. Seine realistische Utopie bietet allerdings wenig Ideen, die nicht längst auf der Agenda der EU-Ratstreffen "Justiz und Inneres" oder auch im jüngsten Koalitionsvertrag gestanden hätten: Größere Resettlement-Kontingente, Bekämpfung von Fluchtursachen, Unterstützung von regionalen Erstaufnahmeländern, Bekämpfung von Schleuserkriminalität, Umsetzen von Rücknahmeabkommen. Zwar ist dabei das Ansinnen, größere Resettlement-Kontingente für bedrohte Menschen zu schaffen sehr löblich - nur fehlt hier bekanntlich in der EU der politische Wille. Koopmans Realismus ist deutlich ausgeprägter als sein Hang zur Utopie: Er fordert mehr Abschiebungen in Länder Westafrikas und als "Anreiz" im Gegenzug mehr legale Arbeitsvisa für dieselben Länder, um dann aber zugleich zu warnen, dass so neue "Brückenköpfe" für weitere Einwanderung geschaffen würden. Das Buch bietet einen guten Überblick über die aktuelle Debatte - inklusive ihrer blinden Flecke.

Hinter Stacheldraht: Flüchtlinge auf der Insel Lesbos im Jahr 2015. Diese Bilder sollen auch in der Heimat der Menschen, die sich übers Mittelmeer gewagt haben, für Abschreckung sorgen. (Foto: Dimitar Dilkoff/AFP)

Franziska Grillmeier versucht dagegen erst gar nicht, politische Vorschläge zur Lösung zu machen. Vielleicht, weil sie angesichts ihrer eigenen Erfahrung vor Ort zu desillusioniert ist. Oder weil sie einer anderen, sehr grundlegenden Form von Utopie anhängt: Dass Europa jene Werte, die es gern für sich reklamiert, auch im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten achtet.

René Wildangel ist Historiker und schreibt unter anderem zum Schwerpunkt Naher/Mittlerer Osten.

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