Ukraine-Krieg:Appelle gegen das Blutvergießen

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Alltag in Trümmern: Straße vor der Regionalverwaltung von Charkiw, die laut Stadtverwaltung von einer Rakete getroffen wurde. (Foto: Vyacheslav Madiyevskyy/Reuters)

Während Putin seine Streitkräfte vorrücken lässt, fordert das Europaparlament, die Ukraine schnell zum EU-Beitrittskandidaten zu machen. Moskau kündigt Angriffe auf Kiew an.

Von Matthias Kolb und Paul-Anton Krüger

Bundeskanzler Olaf Scholz befürchtet angesichts des Angriffskriegs des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine viele zivile Opfer. "Die Ukraine kämpft buchstäblich um das Überleben", sagte er. Die russischen Truppenbewegungen seien sehr umfassend. "Und deshalb dürfen wir uns nichts vormachen: Das wird jetzt noch eine ganz, ganz dramatische Zeit werden." Die bisher aus der Ukraine kommenden Bilder mit vielen Toten, Verletzten und Zerstörungen "werden nur ein Anfang sein von dem, was wahrscheinlich noch kommt".

Er warf Putin vor, sich am ukrainischen Volk zu vergehen, und appellierte: "Das Blutvergießen muss ein Ende haben!" Das Hilfswerk UNHCR warnte vor der möglicherweise größten Flüchtlingskrise in Europa in diesem Jahrhundert: Inzwischen seien schon 677 000 Menschen vor der Gewalt in der Ukraine ins Ausland geflüchtet, nach Angaben der Regierung in Warschau alleine 400 000 nach Polen.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij erklärte, er habe Scholz in einem Telefonat darum gebeten, eine Flugverbotszone über der Ukraine zu errichten, um Angriffe aus der Luft auf zivile Ziele zu unterbinden. Dies hatte zuvor die US-Regierung schon abgelehnt, weil zur Durchsetzung westliche Soldaten direkt in die Gefechte eingreifen und russische Kampfjets, Marschflugkörper und Raketen abschießen müssten. Präsident Joe Biden hat ein direktes militärisches Eingreifen ebenso wie die Nato ausgeschlossen. Auch der US-Präsident telefonierte am Dienstag mit seinem ukrainischen Amtskollegen. Selenskij schrieb auf Twitter, dabei sei es um die amerikanische Führungsrolle bei den Sanktionen gegen Russland und der Militärhilfe für die Ukraine gegangen.

Nach einer ergreifenden Rede des ukrainischen Präsidenten im EU-Parlament: Ursula von der Leyen applaudiert Wolodimir Selenskij. (Foto: Virginia Mayo/AP)

Vor dem Europaparlament wiederholte Selenskij am Dienstag in einer aufwühlenden Rede den Wunsch seines Landes, der Europäischen Union beizutreten. Selenskij war per Video in einer Sondersitzung zugeschaltet und sagte, dass die Ukrainer auch dafür kämpften, "gleichberechtigte Mitglieder Europas" zu werden. In der Debatte sicherten neben den Europaabgeordneten auch die Präsidenten der EU-Kommission und des Europäischen Rates, Ursula von der Leyen und Charles Michel, der Regierung in Kiew Solidarität und umfassende Unterstützung zu. Allerdings betonte Michel, dass nicht alle 27 Regierungen bereit seien, der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten zu verleihen. Dies verlangt das EU-Parlament nun in einer Resolution, die jedoch nicht bindend ist.

Die russische Armee zog am Dienstag starke Verbände um die Hauptstadt Kiew zusammen, darunter weitreichende Artilleriegeschütze, Panzer und Raketenwerfer. Ein Militärkonvoi reichte mehr als 60 Kilometer in Richtung der Grenze zu Belarus zurück. Das Verteidigungsministerium in Moskau warnte die Bewohner Kiews am Dienstag, es würden Ziele in der Stadt angegriffen. Das Ministerium nannte militärische Einrichtungen, forderte aber auch Menschen, die neben Verteilerstationen wohnen, auf, ihre Wohnungen zu verlassen. Bei einem mutmaßlichen Raketenangriff auf den Fernsehturm in der ukrainischen Hauptstadt wurden mindestens fünf Menschen getötet. Fünf weitere seien verletzt worden, teilte der Zivilschutz mit.

Die Stadt Charkiw im Nordosten des Landes war in der Nacht zuvor schon Ziel heftiger Angriffe geworden, unter anderem mit ungelenkten Grad-Raketen. Dabei sind laut den Behörden mindestens elf Zivilisten getötet und Dutzende verletzt worden, mehr als 80 Wohnhäuser wurden demnach beschädigt. Die ukrainische Botschafterin in den USA sowie die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch warfen den russischen Streitkräften vor, großflächig Streumunition einzusetzen.

Diese für Zivilisten besonders gefährlichen Sprengkörper sind international geächtet, Russland hat die entsprechende Konvention aber nicht unterzeichnet. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag will so schnell wie möglich wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine Ermittlungen aufnehmen. Es gebe eine hinreichende Grundlage für Ermittlungen, teilte Chefankläger Karim Khan mit.

Ungeachtet der russischen Drohungen gehen Bemühungen weiter, den Konflikt beizulegen. An diesem Mittwoch sollen sich laut der russischen Nachrichtenagentur Tass Unterhändler der Ukraine und Russlands zu einer zweiten Gesprächsrunde treffen. Allerdings blieb unklar, ob sie wirklich stattfinden werden. Die Ukraine ist laut Außenminister Dmytro Kuleba bereit, Lösungen zu finden. Aber man werde nicht einfach russischen Ultimaten folgen. Die Nato habe die moralische und politische Pflicht, die militärischen Anstrengungen der Ukraine zu unterstützen. Wenn die Ukraine falle, sei die Nato als Nächstes an der Reihe, erklärte Kuleba.

Selesnkij sagte, Russland müsse aufhören, Städte zu bombardieren, bevor es bedeutsame Gespräche über eine Waffenruhe geben könne. Putin hat seinerseits seine Forderungen bekräftigt. Die Regierung in Kiew müsse die "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk sowie Russlands Souveränität über die Krim anerkennen, teilte der Kreml am Dienstagabend mit. Zudem müsse die Ukraine entmilitarisiert und in einen neutralen Status überführt werden, hieß es in der Mitteilung zu einem Telefonat Putins mit Venezuelas Präsident Nicolás Maduro.

China rief Russland und die Ukraine auf, eine Lösung des Konflikts durch Verhandlungen zu erreichen. Absolute Priorität sei nun zu verhindern, dass die Lage eskaliere oder sogar außer Kontrolle gerate, zitieren Staatsmedien Außenminister Wang Yi nach einem Telefonat mit Kuleba. China hat zwar betont, dass das Prinzip der territorialen Integrität auch für die Ukraine gelte, nicht aber Russlands Angriffskrieg als solchen verurteilt.

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