Anschlag in München:Abend der Angst

Lesezeit: 7 min

Helfer vom Roten Kreuz betreuen Zeugen der Attacke im Olympia-Einkaufszentrum. (Foto: dpa)

Schüsse, Tote und Gerüchte - München steht am Freitag von 18 Uhr an unter Schock. Den Menschen wird bewusst: Das Grauen macht nicht länger Halt vor der eigenen Stadt.

Von S. Beck, N. Bovensiepen, F. Kotteder, F. Müller, K. Stroh, S. Wimmer und W. Wittl

Gegen 18 Uhr scheint es in München noch ein ganz normaler Freitagabend zu sein. Wer zu dieser Zeit in den Feierabend geht oder fährt, erlebt halbwegs normales Verkehrschaos und kann am Himmel Gewitterwolken aufziehen sehen. Ein paar Minuten später zeichnet sich dann ab, dass dies absolut kein normaler Freitagabend wird - sondern ein Abend des Schreckens. Ein Abend, an dem den Münchnern bewusst werden wird, dass der grauenhafte Terror nicht länger Halt macht vor der eigenen Stadt.

Der öffentliche Nahverkehr wird eingestellt, viele Gasthäuser schließen

Um 17.52 Uhr, so meldet es die Polizei später, berichten erste Zeugen von einer Schießerei in der Hanauer Straße im Norden der Stadt, die sich dann in die Riesstraße sowie in das nahe Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) verlagert habe. Das OEZ ist eines der größten Shoppingcenter in Bayern und stets gut besucht. Auch an diesem Abend ist dort viel los. Nun melden Zeugen, dass dort drei Menschen mit Schusswaffen aufgetaucht sind. Rasch verbreitet sich Panik - und nicht nur dort. Denn kurz nach diesen ersten Meldungen, die ja nicht nur an die Polizei gehen, sondern die sich via Twitter, Facebook und andere Kanäle in Windeseile verbreiten, ist in München wenig so wie zuvor. Es ist ein Abend, den keiner, der ihn erlebt, schnell vergessen wird.

Twitterschau
:Wie das Netz auf den Anschlag in München reagiert

Bereits wenige Stunden nach der Schießerei solidarisieren sich Twitter-Nutzer mit München - unter einem eigenen Hashtag. Eine Auswahl.

Im Feierabendverkehr sind in kürzester Zeit Massen von Einsatzwagen von Polizei und Feuerwehr unterwegs - nahezu alle verfügbaren Einsatzkräfte werden zunächst in den Norden der Stadt beordert. Auf den Straßen, in Autos und auf Fahrradwegen checken die Menschen nun ständig ihre Smartphones auf das, was sich gerade abspielt. Manches davon wird sich als wahr erweisen: Mehrere Menschen kommen bei der Attacke ums Leben, mehrere werden schwer verletzt. Und die Polizei ruft für die Stadt tatsächlich eine "akute Terrorlage" aus. Der öffentliche Nahverkehr wird in weiten Teilen eingestellt, Gasthäuser schließen, die Polizei ruft die Menschen auf, öffentliche Plätze zu meiden.

Um 19 Uhr, gut eine Stunde nach den ersten Meldungen, mischen sich echte Nachrichten im Sekundentakt mit Gerüchten. Von der durch die Polizei bestätigten Schießerei im OEZ ist die Rede. Daneben gibt es das Gerücht von einer Schießerei am Stachus, einem der zentralen Plätze mit großem S- und U-Bahnhof mitten in der Innenstadt. Weiter heißt es plötzlich, es gebe eine Messerstecherei am Marienplatz, dem Herzen Münchens. Und auch auf dem "Tollwood", einem Festival, das zwei Mal im Jahr in der Stadt stattfindet, könne etwas passiert sein.

Um 20.37 Uhr wird eine Verkäuferin von der Polizei aus der Sperrzone geleitet

Die Münchner Polizei bestätigt vieles davon nicht. Die Einsatzkräfte arbeiten auf Hochtouren; sie evakuieren das OEZ, immer noch der Hauptort des Geschehens, Hubschrauber kreisen über der Stadt, doch einen kompletten Überblick hat zu dieser Zeit niemand. Es wird eine Einsatzzentrale eingerichtet, zunächst in der Hauptfeuerwehrwache, dann wird sie ins Polizeipräsidium in der Ettstraße verlegt. Dort findet sich gegen 19 Uhr Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter ein, der von nun an in ständigem Kontakt mit dem bayerischen Innenministerium und der Polizei steht.

Gegen 19.15 Uhr rennen im Untergeschoss des Marienplatzes Polizisten mit schusssicheren Westen durch die Menge und schicken die Menschen heim. Da sei man sicher. S- und U-Bahnen würden nicht mehr fahren. Die Leute laufen aus dem Bahnhof. In der Fußgängerzone beginnen Menschen zu rennen. Minuten später räumt die Polizei die Fußgängerzone komplett. Nun kreischen die Menschen, es ist von Schüssen die Rede. Polizeiautos fahren durch, mit schwerbewaffneten Beamten. Geschäftsleute werden aufgefordert, die Läden zu schließen.

Schüsse in München
:Wie der Terror über München kam

Der dramatische Abend im Minutentakt: Was am Freitag ab 17.52 Uhr im Olympia-Einkaufszentrum und der ganzen Stadt geschah.

Gegen 20 Uhr wird die Lage zumindest ein wenig klarer. Die Polizei schickt über mehrere Kanäle einen ersten Bericht und informiert an provisorischen Pressestützpunkten. Es heißt, die Polizei gehe davon aus, es mit ein bis drei Tätern zu tun zu haben, die arabisch ausgesehen hätten. Die Fahndung laufe auf Hochtouren. Und weil noch keiner gefasst ist, erfolgt ein für Münchner vollkommen ungewohnter Appell: Alle Personen im Stadtgebiet werden gebeten, zu Hause zu bleiben oder in nahen Gebäuden Schutz zu suchen. Ausgehverbot. In München. Es sind Stunden der Unsicherheit, des Nicht-Fassen-Könnens, was in dieser sonst so friedlichen Stadt passiert. Unter dem Hashtag #offeneTuer bieten Münchner anderen Menschen, die unterwegs sind und sich unsicher fühlen, eine Bleibe an.

Manche haben zu dieser Zeit das Schlimmste schon hinter sich. Kurz nach 20.30 Uhr geleiten Polizisten eine Verkäuferin aus dem OEZ, mit etwa 100 anderen Menschen. Sie stehen vor einer Apotheke, Ecke Pelkovenstraße. Allmählich kommen die Gedanken. Die Frau war bei der Arbeit im Erdgeschoss, als sie Schüsse hörte. Sie hat hinausgesehen, im Geschäft gegenüber ließen sie da schon den Rollladen runter. So erinnert sie sich, mit Schrecken in den Augen, aber doch gefasst. Sie hat noch zwei Menschen hereingeholt in den Laden, in etwas mehr Sicherheit zumindest: eine alte Frau im Sommerrock, einen alten Mann, der trotz Krücke kaum gehen konnte.

(Foto: sz)

Und dann haben sie sich zu dritt verschanzt in dem Laden, die Dame in der einen Kabine, der Herr in der anderen, die Verkäuferin hat sich hinter die Kassentheke gekauert. Eine Stunde lang. Bis die Polizei von Laden zu Laden gegangen und auch zu ihnen gekommen ist. Die Beamten haben die drei hinausgeleitet, über die Straße, zum großen Elektromarkt. "Ich werde das Bild nie aus dem Kopf kriegen", sagt sie, die Toten auf der Straße, an denen sie vorbeigegangen sind. Mindestens zwei auf dem Gehweg. "Man kann ja nicht alles abdecken." Als "Kopfkino" werde ihr das bleiben, sagt sie. "Ich habe ja noch nie Menschen gesehen, die gewaltsam umgekommen sind."

Aus der Staatskanzlei gibt es vorerst keine Presseerklärung

Nein, das haben viele Münchner nicht, und das macht das Grauen dieses Abends umso unbegreiflicher. Gegen 21.30 Uhr gibt es von der Polizei weitere nüchterne, schreckliche Fakten. Sechs Tote habe es bei den Schießereien im OEZ gegeben, und zahlreiche Verletzte.

Kurz danach meldet die Bundespolizei, es seien nicht sechs, sondern sieben Tote.

Einer von Münchens schönsten Plätzen, der Odeonsplatz, wo sich zum Zeitpunkt des Anschlags Tausende Menschen bei einem großen Bierfest drängelten, wird am späteren Abend geräumt, offiziell aufgrund einer "Unwetterwarnung". Die Besucher werden gebeten, sich im nahen Innenministerium und im Landwirtschaftsministerium in der Ludwigstraße zu sammeln. Dort werden die Anwesenden über den Anschlag informiert, soweit sie es nicht ohnehin schon erfahren haben. Mit den Naturalien, die eigentlich für das Bierfest vorgesehen waren, werden später die Einsatzkräfte versorgt. Ob das Festival an diesem Wochenende fortgesetzt wird, ist unklar.

Video-Aufnahmen
:Angriff am McDonald's

Im Internet kursieren Videos, die eine Schießerei vor einem McDonald's und eine Eskalation auf einem Parkdeck zeigen. Vieles deutet darauf hin, dass sie authentisch sind - die Anzeichen verdichten sich, dass die Aufnahmen den Täter zeigen und Hinweise auf seine Motive geben.

Von Julia Bönisch

Aus dem OEZ werden im Laufe des Abends Hunderte Menschen weggebracht, darunter eine Schwangere. Auch während der Evakuierung ist die Situation angespannt, Polizisten nehmen mit gezückter Waffe andere Passanten ins Visier und schreien: "Hände über den Kopf."

Gegen 21 Uhr melden sich erste Stimmen aus der Staatskanzlei. "Schwer betroffen und gleichzeitig höchst alarmiert" sei die bayerische Politik. Gegen 22 Uhr bittet eine Sprecherin der Staatskanzlei um Verständnis, dass es "in Anbetracht der Lage" von hier wie auch von der Bundesregierung "vorerst keine Presseerklärung" geben werde. Für diesen Samstag elf Uhr wird ein Treffen des bayerischen Kabinetts angesetzt.

Worüber dann zu reden sein wird, ist Freitagabend weiter lange unklar. Die Gerüchteküche brodelt insbesondere im Internet weiter. Natürlich insbesondere, wer es wohl ist, der diese schrecklichen Taten in eine Stadt gebracht hat, die 1972 (Olympia-Attentat) und 1980 (Oktoberfestattentat) schlimmen Terror erlebt hat, der aber in der Erinnerung inzwischen verblasst ist. Nach dem Attentat in Nizza und der Axt-Attacke von Würzburg sind vielen Menschen auch in München Gedanken gekommen, die darum kreisten, ob auch hier bald wieder etwas geschehen könnte. Vielleicht zum Oktoberfest?

Pressesprecher der Polizei München
:Der Mann, der ruhig bleibt

Marcus da Gloria Martins ist Pressesprecher der Münchner Polizei - und tritt als einer der wenigen glaubwürdig und souverän auf.

Von Carolin Gasteiger

War es ein Täter oder mehrere? Lange war darüber nichts bekannt. Inzwischen geht die Polizei von einem Einzeltäter aus. Bei der Leiche, die sie im Gebiet des OEZ auffand, soll es sich um einen 18-Jährigen Münchner handeln. Über das Motiv für die Tat herrschte auch am Tag danach weiterhin Unklarheit. Bereits am Abend hatte Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins in einer Pressekonferenz vor vorschnellen Spekulationen gewarnt.

Die Pressekonferenz findet in einem Autohaus beim OEZ statt. Dort in der Nähe wird ein Kentucky Fried Chicken zu einer der Schaltstellen der Ermittlungen. Alle, die im OEZ oder in dessen Nähe waren, sind hierher gebracht worden. Auf dem Parkplatz stehen sie in Gruppen - so lange, bis sie vernommen worden sind. Ein Vorgesetzter erklärt den Kollegen das Procedere: Menschen, die etwas gesehen haben, sind vorrangig zu behandeln. Wenn ein Zeuge wichtige Beobachtungen gemacht hat, sofort weitermelden.

Ein junges Paar zum Beispiel: Sie haben Fotos vom Geschehen auf dem Handy. Sie werden sofort mitgenommen, um die Daten auszulesen. Auf dem Parkplatz schwärmen die Polizisten aus und lassen sich berichten. Beobachtungen, Personalien natürlich auch. Wer Glück hat, wird drinnen im Restaurant vernommen. Hinter den Scheiben sind wild gestikulierende Frauen und Männer zu sehen und Polizisten, die das alles in Mappen eintragen. Glück deshalb, weil es nun kalt geworden ist draußen.

Die Stadt steht still

Zu dieser Zeit ist auch das Tollwood-Festival abgebrochen. Die Stadt steht still. In der Müllerstraße, wo sich sonst die Nachtschwärmer drängen, sind die Gehsteige fast menschenleer. In den wenigen Lokalen, die noch offen haben, drängen sich Menschen, Gestrandete mit Koffern. 20 Euro für jemanden, der mich zum Gasteig fährt, ruft eine Frau einem Autofahrer zu.

Am zentral gelegenen Jakobsplatz wartet eine Passantin an der Bushaltestelle. Sie kommt von der Iberlbühne, die Vorstellung wurde abgesagt. "Ich bin krank, ich kann nicht zu Fuß gehen", sagt sie, "ich rufe die Polizei, sie muss mich fahren." Nach Feiern ist in München an diesem Abend aber auch wirklich niemandem mehr zumute, der vom Geschehen etwa mitbekommen hat. Bis um 23 Uhr steigt die Zahl der Toten einschließlich des Täters, der sich erschoss, auf zehn. Aus dem Krankenhaus Rechts der Isar kommt die traurige Nachricht, dass ein 15- jähriges Mädchen unter den Toten ist.

Schießerei
:Stadt im Ausnahmezustand

Ein Mann schießt an einem Einkaufszentrum um sich, es gibt Tote und Verletzte - und in der ganzen Stadt bricht Panik aus. Impressionen aus einer verwundeten Stadt.

Nach Mitternacht deutet es sich an, dass doch alles ganz anders ist, als alle denken. Keine Terrorgruppe. Keine bis zu drei Schützen, wie es zuvor von der Polizei hieß. Sondern ein einzelner Täter, eben jener Mann, der sich fünf Stunden zuvor wenige hundert Meter entfernt vom OEZ selbst getötet haben soll. Wenig später wird er identifiziert. Es ist ein 18-jähriger Schüler aus München. Was ihn zu der Tat bewogen hat, weiß zu dieser Stunde niemand. Die Gefahr ist offenbar vorbei, die Polizei gibt vorsichtig Entwarnung.

Noch in der Nacht informiert die Polizei die Öffentlichkeit in einer Pressekonferenz. "Wir haben derzeit keine Erkenntnisse, dass dieser brutale und traurige Fall dazu Anlass gibt, sich unsicher zu fühlen", sagt Hubertus Andrä, der Polizeipräsident in der Stadt, die als sicherste Großstadt Europas gilt.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: