Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt:2016 - Jahr des Terrors für Deutschland

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Bilder der Terroranschläge aus Würzburg, Ansbach und Berlin (von links) (Foto: dpa/AFP/Reuters)

Hannover, Würzburg, Ansbach. Nie war die terroristische Bedrohung hierzulande so gegenwärtig wie in diesem Jahr.

Von Johanna Bruckner

Anschlag verhindert, Verdächtige festgenommen, Gefahr vorläufig abgewendet. Immer wieder konnten die deutschen Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren solche Meldungen verbreiten. Eine Bedrohung durch den Terrorismus war zwar da, doch von Anschlägen mit vielen Toten wie in Paris, Nizza oder Brüssel blieb Deutschland bislang verschont.

Doch 2016 ist das Jahr, in dem sich das Sicherheitsgefühl der Deutschen ändert. Die Gefahr kommt immer näher und sie ist sehr real - eine Chronologie der Eskalation.

24. Februar: Messerattacke auf einen Polizisten in Hannover

Es ist ein Februarnachmittag am Hauptbahnhof Hannover, ein junges Mädchen steht an der Ballustrade vor den Rolltreppen. Sie fixiert zwei Polizisten, die sich nur wenige Meter neben ihr postiert haben. Die Jugendliche starrt die Beamten so lange an, bis die sich ihr nähern und nach ihrem Ausweis verlangen - da sticht Safia S. zu. Zwei Messer hat sie dabei. Ein 34-jähriger Polizist wird so schwer am Hals verletzt, dass er notoperiert werden muss.

Safia S. ist zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt. Islamistisch indoktriniert wird sie, seit sie ein kleines Kind ist. Ihre Mutter verkehrt in der Hannoveraner Salafistenszene und lässt ihre Tochter mit dem deutschen Hassprediger Pierre Vogel auftreten. Bereits mit sieben Jahren trägt Safia ein Kopftuch, mit 15 will sie sich in Syrien dem sogenannten Islamischen Staat (IS) anschließen. Safia S. ist, wie SZ-Gerichtsreporterin Annette Ramelsberger später schreibt, der "Kinderstar der Salafisten". Als die Ausreise nach Syrien misslingt, beschließt sie, einen Anschlag in Deutschland zu verüben.

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16. April: Sprengstoffanschlag auf einen Sikh-Tempel in Essen

Im Gemeindehaus nahe des S-Bahnhofs Essen West findet eine Hochzeit statt, als gegen 19 Uhr ein Sprengsatz detoniert. Ein Feuerlöscher war von den Tätern präpariert und vor dem Gebetssaal abgestellt worden. In dem Gebäude befinden sich zum Zeitpunkt des Anschlags mehr als 100 Personen - weil sich die meisten Gäste in anderen Räumen aufhalten, gibt es wie durch ein Wunder keine Toten. Der Priester der Gurdwara-Nanaskar-Gemeinde wird schwer, zwei weitere Personen leicht verletzt.

Vier Tage nach der Tat, am 20. April, stellt sich ein Jugendlicher aus der radikal-islamischen Szene in Nordrhein-Westfalen der Polizei: Es ist der damals 16-jährige Yusuf T. Er verrät den Behörden seinen Mittäter, den ein Jahr älteren Mohammed Ö. Der Jugendliche wird zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt und geht in Berufung, der Prozess gegen Yusuf T. läuft noch. Seiner Mutter soll Yusuf nach dem Anschlag gesagt haben: "Ich habe Mist gebaut, Mama." Seinem Anwalt zufolge bereut der Jugendliche die Tat.

18. Juli: Angriff in einem Regionalzug bei Würzburg

Gegen 21 Uhr besteigt ein junger Mann im unterfränkischen Ochsenfurt den Regionalzug von Treuchtlingen nach Würzburg. Er zieht sich zunächst auf die Zugtoilette zurück. Eine Viertelstunde nachdem er zugestiegen ist, attackiert er mit einem Beil und einem Messer bewaffnet Mitreisende. Bei Würzburg-Heidingsfeld lösen Passagiere eine Notbremsung aus, der Zug kommt zum Stehen - der junge Mann verlässt den Zug. Auf seiner Flucht schlägt er eine Spaziergängerin nieder, die mit ihrem Hund unterwegs ist. Ein Spezialeinsatzkommando, das wegen eines anderen Einsatzes zufällig in der Nähe ist, stellt den Attentäter schließlich 500 Meter vom Zug entfernt. Als er die Beamten mit seinen Waffen angreift, wird er erschossen.

Wie sich später herausstellen wird, war der Täter im Sommer 2015 ohne Papiere nach Deutschland eingereist. Er wohnte unter dem Namen Riaz Khan A. als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling bei einer Pflegefamilie - sein tatsächliches Alter, sein Name und seine Herkunft sind aber bis heute nicht gesichert. Vor seinem Anschlag chattete er mit einem mutmaßlichen Mitglied der Terrormiliz Islamischer Staat ( lesen Sie hier das Chatprotokoll des Attentäters von Würzburg).

Vier Personen - Mitglieder einer Familienreisegruppe aus Hongkong - werden bei seinem Angriff zum Teil lebensgefährlich verletzt. Im November können schließlich alle Opfer aus dem Krankenhaus entlassen werden.

22. Juli: Angst in München

Das Thema Terror ist 2016 in der deutschen Öffentlichkeit omnipräsent: Als am 22. Juli in einem Münchner Einkaufszentrum Schüsse fallen, müssen die Behörden die Möglichkeit eines Anschlags in Betracht ziehen. Als sich später herausstellt, dass es sich bei der Tat um einen Amoklauf handelt, ist fast so etwas wie Erleichterung zu spüren. Gott sei Dank kein Terror.

24. Juli: Sprengstoffanschlag in Ansbach

Nicht einmal eine Woche nach der Tat von Würzburg, explodiert im mittelfränkischen Ansbach ein Sprengsatz. Der Attentäter will seinen präparierten Rucksack eigentlich abends auf dem Gelände des Musikfestivals "Ansbach Open" zur Detonation bringen - als ihm der Zugang verwehrt wird, weil er keine Eintrittskarte hat, begibt er sich zu einer nahegelegenen Weinstube. Im bewirtschafteten Außenbereich geht seine Bombe hoch - ob beabsichtigt oder aus Versehen ist bis heute unklar. Bei der Explosion werden 15 Menschen verletzt, vier Personen schwer. Der Attentäter selbst stirbt infolge seiner Verletzungen.

Ermittlungen der Polizei zufolge handelt es sich um Mohammad D., einen jungen Syrer, der 2014 nach Deutschland gekommen war. Kurz vor der Tat wird der Asylantrag von D. abgelehnt - er versucht daraufhin zwei Mal, sich umzubringen. Die Hintermänner des IS haben leichtes Spiel mit dem labilen jungen Mann: Per SMS bekommt er noch am Tag des Anschlags Anweisungen. Als D. dem Instrukteur offenbar zu zögerlich agiert, herrscht der ihn an: "Vergiss das Fest und geh zum Restaurant. Mann, was ist mit dir los? Ich würde es wegen zwei Personen durchführen. Vertrau Gott, und lauf zum Restaurant los."

Oktober: Festnahme und Suizid von Dschaber al-Bakr

Im September erhält der deutsche Verfassungsschutz nach eigenen Angaben einen Tipp, dass ein islamistischer Anschlag auf die Verkehrsinfrastruktur der Bundesrepublik geplant sei. Die Information soll auf ein Telefonat zurückgehen, das ein Kontaktmann in Syrien mit einem in Deutschland lebenden mutmaßlichen IS-Unterstützer führte. Der Name des Mannes: Dschaber al-Bakr. Der Syrer lebt mit einer befristeten Aufenthaltserlaubnis in Chemnitz. Als sich die Gefahr eines bevorstehenden Terroranschlags Anfang Oktober konkretisiert - al-Bakr soll im Internet unter anderem nach Bauanleitungen für Sprengstoffvorrichtungen gesucht haben -, beginnt die sächsische Polizei, ihn zu observieren. Als der potenzielle Attentäter beim Kauf von Heißkleber beobachtet wird, soll er am 8. Oktober in seiner Wohnung festgenommen werden. Doch der Zugriff scheitert, al-Bakr kann flüchten.

Eine Öffentlichkeitsfahndung bleibt erfolglos, der Flüchtige kann erst knapp 48 Stunden später festgenommen werden - dank der Mithilfe von drei Syrern, die gemeinsam in einer Wohnung in Leipzig leben. Dort hatte al-Bakr Zuflucht gesucht. Doch die Bewohner erkennen in ihrem Gast den Gesuchten, verständigen die Polizei und fesseln al-Bakr vorsorglich. Doch mit der Festnahme ist die Pannenserie der Behörden nicht zu Ende: Obwohl al-Bakr bei seiner Unterbringung in der JVA Leipzig als suizidgefährdet eingestuft worden war, wird seine Zelle nur alle 30 Minuten kontrolliert - eine verhängnisvolle Nachlässigkeit. Am Abend des 12. Oktobers wird al-Bakr erhängt in seiner Zelle aufgefunden.

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Oktober: IS reklamiert Mord in Hamburg für sich

Der IS schafft es immer wieder, das Sicherheitsgefühl der Menschen zu erschüttern: Ende Oktober reklamiert die Terrororganisation den Mord an einem Jugendlichen in Hamburg für sich. Der 16-Jährige war Mitte Oktober unter der Kennedybrücke erstochen worden, seine Begleiterin stieß der unbekannte Täter in die Alster. Experten bezweifeln allerdings, dass der IS etwas mit der Bluttat zu tun hat ( warum in Bezug auf das Tatbekenntnis Vorsicht angebracht ist, lesen Sie hier).

Ende November/Anfang Dezember: Zwölfjähriger scheitert mit Anschlägen in Ludwigshafen

Es ist eine weitere Schreckensnachricht - eine, die man kaum glauben mag: Mitte Dezember wird bekannt, dass ein zwölfjähriger Junge in Ludwigshafen in Rheinland-Pfalz versucht haben soll, Anschläge auf den dortigen Weihnachtsmarkt zu verüben. Auf die Spur kommen ihm die Behörden über einen mit Nägeln präparierten Brand- oder Sprengsatz. Zwei Mal scheitert sein tödliches Unterfangen - ob er am Ende zögerte oder seine selbstgebastelten Bomben nicht funktionierten, ist nicht bekannt. Der Junge soll religiös radikalisiert sein und über einen Messenger-Dienst Anweisungen vom IS erhalten haben. Ermittelt wird gegen ihn jedoch nicht, weil er strafunmündig ist. Er befindet sich mittlerweile in der Obhut des Jugendamtes. Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe ermittelt im Umfeld des Jungen.

19. Dezember: Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt

Der vergangene Dezembermontag bringt den Terror endgültig nach Deutschland: Ein Unbekannter steuert einen eventuell gekaperten Lkw auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz - mindestens elf Menschen kommen ums Leben, Dutzende werden zum Teil schwer verletzt. Inwieweit der Täter auch für den Tod des ursprünglichen Lastwagenfahrers verantwortlich ist, ist derzeit noch unklar ( hier geht es zum Liveticker).

Ein symbolträchtiges Ziel, viele Opfer: Am Ende kam es so, wie von vielen Terrorexperten befürchtet, trotz aller Bemühungen der deutschen Sicherheitsbehörden. Weihnachten 2016 - ein trauriger Höhepunkt in der deutschen Chronologie des Terrors.

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