Migration:Viele Flüchtlinge sind zu Unrecht in Abschiebehaft

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Bis 2017 Justizvollzugsanstalt, seit 2018 Gefängnis für unerwünschte Flüchtlinge: Abschiebungshafteinrichtung im oberbayerischen Eichstätt. (Foto: Hans-Rudolf Schulz/Imago)

Der Anwalt Peter Fahlbusch vertritt Menschen, die abgeschoben werden sollen und zuvor in Haft sitzen - jeder zweite zu Unrecht. Das ist teuer und hat keinen belegten Nutzen, aber die Regierung tastet den Missstand nicht an.

Von Nina von Hardenberg

Am vergangenen Dienstag verlässt ein junger Syrer nach mehr als einem Monat die Abschiebehaftanstalt in Erding. Den Antrag der Polizei, ihn weiterhin festzuhalten, hat das Amtsgericht Erding in der Verhandlung am Vortag zerpflückt und seine "unverzügliche" Freilassung angeordnet. Sein Anwalt, Peter Fahlbusch, ist da schon wieder im Zug zurück zu seinem Büro in Hannover. Auf seinem Handy sammeln sich die Nachrichten anderer Hilfesuchender. "Ich wende mich in SEHR GROSSER Verzweiflung an Euch", steht da etwa. Der Anwalt kennt das schon.

Seit mehr als 20 Jahren vertritt Fahlbusch Menschen, die in Haft genommen werden, damit sie abgeschoben werden können. 2333 waren es bis Ende 2022. Der Anwalt führt da eine sehr genaue Statistik. "Mehr als die Hälfte saß zumindest teilweise zu Unrecht in Haft - manche einen Tag, manche Monate", erzählt er bei einem Treffen in München. Seine Augen blitzen dabei so ungläubig, als sage er das zum ersten Mal. Dabei kämpft Fahlbusch seit Jahren gegen das, was er für einen gewaltigen Justizskandal hält: dass jedes Jahr Hunderte abgelehnter Flüchtlinge zu Unrecht in Abschiebehaft kommen.

Peter Fahlbusch ist seit 1998 Rechtsanwalt und bundesweit im Migrationsrecht tätig, insbesondere in Abschiebungshaftverfahren. (Foto: Thilo Nass)

Möglichst viele abgelehnte Asylbewerber möglichst schnell außer Landes zu bringen- das war das Ziel der alten Bundesregierung. Und auch die Ampelkoalition, die in Asylfragen sonst einen humaneren Kurs ansteuert, weicht davon nicht ab, im Gegenteil: Sie hat sich eine "Abschiebeoffensive" ins Koalitionsprogramm geschrieben. Durchschnittlich 23 200 Flüchtlinge wurden vor Corona pro Jahr abgeschoben, künftig könnten es noch mehr werden. Für die Akzeptanz der ganzen Flüchtlingspolitik sei eine "konsequente Rückführung" derjenigen geboten, die keinen Schutz zugesprochen bekommen, erklärt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums.

Bayern sperrt 42 Prozent der Abzuschiebenden zuvor ein

Um Abschiebungen durchzusetzen, dürfen Flüchtlinge nach Paragraf 62 Aufenthaltsgesetz auch in Haft genommen werden. Die Polizei stellt dann einen Haftantrag, über den ein Richter entscheidet. Nach dem Gesetz soll Haft aber die Ausnahme sein, etwa wenn Fluchtgefahr droht. Und sie ist auf die "kürzest mögliche Dauer" zu beschränken. Die Ampel hat diese Regel für Straftäter und Gefährder ausgeweitet. Sie dürfen jetzt sechs statt bislang drei Monate festgehalten werden.

Dabei ist der Nutzen von Haft vor der Abschiebung keineswegs belegt, wie die Linke im Bundestag anhand von Zahlen der Bundesregierung gern vorrechnet. Demnach schiebt auch Berlin, das gar keine eigene Abschiebehaftanstalt hat und nur in Ausnahmefällen die Kapazitäten der Nachbarländer nutzt, vergleichsweise viele Menschen ab. Im Vor-Corona-Jahr 2019, aus dem die aktuellsten validen Daten stammen, waren das 995 Menschen. Nur bei 18 Personen, also etwa 1,8 Prozent der Fälle, hielten die Behörden eine vorherige Haft für nötig. Bayern dagegen schob 3545 Menschen ab und steckte ganze 42,1 Prozent zuvor in Haft - insgesamt 1492 Personen.

Aus Sicht der Behörden ist es einfacher, Menschen direkt aus der Haft abzuschieben - obwohl dabei Kosten von geschätzt 300 bis 400 Euro pro Tag entstehen. Aber aus praktischen Erwägungen heraus dürften Menschen, die weder gefährlich noch straffällig seien, sondern nur von A nach B gebracht werden sollten, nicht ihres Grundrechts auf Freiheit beraubt werden, sagt Fahlbusch. Dabei stößt sich der Anwalt nicht an der Maßnahme an sich, aber er will, dass sie rechtmäßig eingesetzt wird. Einige seiner Mandanten saßen ein, ohne dass ihnen je ein Haftbefehl oder ein in ihre Sprache übersetzter Haftbefehl vorgelegen hätte. Andere hielt man zu lange fest. Einzelne wurden schlicht in der Haft vergessen, selbst dann noch, nachdem ein Gericht ihre Freilassung angeordnet hatte.

Auch der Bundesgerichtshof hat sich seit 2015 mehr als 250 Mal mit dem Thema Abschiebehaft beschäftigt. In 60 Prozent der Fälle erklärte er die Inhaftierung für eindeutig rechtswidrig und hob die Entscheidungen unterer Instanzen auf, wie Hannah Franz, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Rechtsfakultät der Uni Hamburg bei Recherchen für ihre Doktorarbeit analysiert hat. Offizielle Zahlen fehlen dazu zwar, aber einen "bemerkenswert hohen Umfang" rechtswidriger Entscheidungen der Amtsgerichte beklagte schon 2014 die damalige BGH-Richterin Johanna Schmidt-Räntsch.

Fahlbusch fordert Pflichtanwälte für die Betroffenen

Um Flüchtlinge in Abschiebehaft vor solchen Rechtswidrigkeiten zu schützen, wünscht sich Fahlbusch, dass man ihnen einen Pflichtanwalt zur Seite stellt - so, wie es auch bei Untersuchungshäftlingen üblich ist. Auch ein breites Bündnis aus Flüchtlingsorganisationen fordert das. Bislang aber nimmt die Ampel mehr die Abschiebung selbst als den Weg dorthin in den Blick. "Ziel ist es, gerade bei Straftätern und Gefährdern mehr Rückführungen praktisch umzusetzen", sagt Joachim Stamp, der für die FDP die Koalitionsverhandlungen beim Thema Migration geführt hat. Die Ampel habe aber auch verabredet, das Prozedere und die Logistik der Verfahren anzuschauen.

Seit Fahlbusch im Jahr 2001 seine Tätigkeit aufnahm, hat sich die Herkunft seiner Mandanten verändert. Damals kamen beispielsweise noch viele Polen illegal nach Deutschland. Man steckte sie wenig zimperlich in normale Gefängnisse und dort in Fünferzellen, bevor man sie nach Hause zurückschickte. Fahlbusch beantragte für die Nacht Einzelzellen, wie sie den anderen Häftlingen zustanden, und löste damit Platznot in den Gefängnissen aus. Schon damals ging es ihm darum, den hohen rechtlichen Standard Deutschlands auch für die durchzusetzen, die kaum eine Lobby haben: Menschen, die eigentlich gar nicht hier sein dürfen.

Heute vertritt Fahlbusch viele Syrer und Afghanen. Etliche von ihnen hätten hier durchaus Anspruch auf Schutz. Sie sollen aber zurück in die EU-Grenzstaaten gebracht werden, die für ihren Asylprozess zuständig sind.

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Und was nutzt ein Sieg vor Gericht seinen Mandanten? Wenn ihre Haft für unrechtmäßig erklärt wird, sind die meisten von ihnen längst abgeschoben. Es tue ihnen trotzdem gut, zu wissen, dass das Unrecht war, sagt Fahlbusch. Vor allem aber muss dann Deutschland die Kosten der Haft übernehmen. Diese müssen sie sonst selbst erstatten, wenn sie später noch mal mit einem Arbeitsvisum einreisen wollen.

Auch bei dem 23-jährigen Syrer ist noch nicht entschieden, ob seine Haft unrechtmäßig war. Das Verfahren läuft noch. Die Abschiebeanstalt in Erding durfte er nur verlassen, weil das Amtsgericht eine längere Haft für unverhältnismäßig hielt. Der Mann wird nach Bulgarien ausreisen müssen, das Land ist für sein Verfahren zuständig. Da hilft auch nicht, dass seine Familie als anerkannte Flüchtlinge in Deutschland lebt. Im Moment aber kann er bei ihnen sein statt allein in der Zelle.

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