100 Jahre nach dem Attentat von Sarajevo:Krieg der Brüder

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Lange schien der Erste Weltkrieg in die Nebel geschichtlicher Ferne gerückt zu sein. Heute ist er wieder ein Thema - weil Nationalismus und klassische Machtpolitik erstarken. Sind wir heute vor einem Irrsinn wie vor 100 Jahren gefeit?

Ein Kommentar von Joachim Käppner

Nur einen Tag vor den Todesschüssen von Sarajevo 1914 tauchten britische Schlachtschiffe an der Ostseeküste auf - als Gäste der Kieler Woche. Geschütze deutscher Kreuzer feuerten Salut. Die Zeit der schwimmenden Festungen aus Stahl würde schon bald vorüber sein; aber nicht nur deshalb waren sie ein Symbol ihrer dem Untergang geweihten Ära.

Die Riesenschiffe zeigten die technischen Möglichkeiten und die brutale militärische Macht der Europäer, für beides schien es keine Grenzen zu geben. Auch die Unvernunft kannte solche Grenzen nicht: Das Wettrüsten zur See war einer von vielen sinnlosen Streitpunkten zwischen Nationen, die bereits so vieles an Werten, gewiss aber eine gemeinsame Kultur verband.

In seiner Festansprache sagte ein deutscher Kapitän den Briten: Allein die Vorstellung eines Kampfes zwischen beiden Nationen erfülle ihn "mit Horror", er wäre ein Krieg unter Brüdern.

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Und doch ist es genau so gekommen. Anderntags, am 28. Juni 1914, vor genau 100 Jahren, erschoss der serbische Attentäter Gavrilo Princip in Sarajevo den österreichischen Thronfolger, binnen weniger Wochen fielen Europas große Nationen wie von Sinnen übereinander her. Es war eine Orgie der Selbstzerstörung. Eine Welt zerbrach daran, die sich für unerschütterbar gehalten hatte.

Gewiss, gerade in Deutschland setzten sehr starke Kräfte auf Gewalt, vor allem in den sogenannten alten Eliten, welche die Nation in Wirklichkeit zugrunde richten sollten: Wirtschaftsführer, Generäle, Erznationalisten, Junker, der in einen alldeutschen Taumel abgleitende Teil des Bürgertums.

Historische Geisterstunde

Aber es gab auch die andere Seite, und genau sie erscheint uns heute so vertraut: Zahlreiche Menschen gingen 1914, nach Jahrzehnten des Friedens in Mitteleuropa, schon davon aus, Wohlstand, Frieden und Völkerfreundschaft seien etwas völlig Selbstverständliches; die Geschichte der Nationen beschreibe trotz gelegentlicher Rückschläge einen langen, fast gesetzmäßigen Weg zum Besseren. Aber das ist nicht so: All diese Errungenschaften müssen immer neu bewahrt und gefestigt werden.

Lange, sehr lange schien der Erste Weltkrieg in die Nebel historischer Ferne gerückt zu sein und beschäftigte höchstens noch ein paar ergraute Militärhistoriker. Heute aber ist er nicht nur in Deutschland wieder ein großes gesellschaftliches Thema - weil die Kräfte, die damals das alte Europa stürzen ließen, erstarken wie in einer historischen Geisterstunde: Nationalismus und klassische Machtpolitik, deren Werte nicht Demokratie und Selbstbestimmung der Völker sind, sondern Zugewinn von Macht, Einfluss und Territorien. Kurz: Politik als das Recht des Stärkeren, worunter Europa, Kontinent endloser Kriege, über Jahrhunderte, ja Jahrtausende gelitten hat.

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Diese uralten Kräfte sind spürbar in der neovölkischen Machtpolitik des Kreml, sie sind es in der Ukraine, auf der Krim, in Syrien und Libyen. Sie waren es auf den Killing Fields Bosniens und Kosovos in den Neunzigern; diese Kriege wurden gespenstischerweise vom selben Furor des serbischen Ultranationalismus entfacht, der Princip und die Verschwörer der "Schwarzen Hand" zum Attentat von Sarajevo getrieben hatte.

Das Patt des Kalten Krieges hatte die Geister von gestern für einen kurzen Augenblick zurück in die Flasche gedrängt. Diese Stabilität des Schreckens ist neuer Unübersichtlichkeit gewichen, die in der Tat an das Europa von 1914 erinnern kann. Und doch gibt es heute etwas, was damals dramatisch fehlte und das ein "neues 1914" verhindert: Institutionen kollektiver Sicherheit.

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Schon der Dichter Ludwig Börne hat gespottet: "Hätte die Weltgeschichte ein Sachregister, könnte man sie besser benutzen." Es ist einfach, sich auf ihre Lehren zu berufen - und sehr schwer, diese Lehren wirklich zu erkennen. Geschichte taugt nicht dazu, durch willkürliche Analogien die eigenen üblichen Deutungsmuster und Vorurteile zu bestätigen und ihnen einen düsteren Glanz zu verleihen. Nicht wenige Deutsche, die sich für sehr fortschrittlich halten, tun aber nichts anderes.

Sie sind in der Ukraine-Krise emotional eher auf Putins Seite und daher gern bereit, ganze Völker Osteuropas einer imaginären russischen Einflusszone zuzuschlagen, als lebe man in der Zeit der polnischen Teilungen. In diesem Denken hätte vor allem die Nato, aber auch die EU die Osteuropäer niemals aufnehmen dürfen, weil dies eine Zumutung für Moskau sei; daher sei wie damals das Deutsche Reich heute mehr "der Westen" schuld, wenn ein neues 1914 drohe. Freilich war der Beitritt in die Gemeinschaften des Westens der eindeutige, demokratisch legitimierte Wunsch dieser Völker; und sie wussten, warum.

"Nichts ist möglich ohne den Menschen. Nichts ist von Dauer ohne Institutionen." Das hat Jean Monnet, einer der Gründerväter des vereinten Europa, einmal gesagt. Dass Europa in Wahrheit eben kein neues 1914 droht, das ist der Erfolg genau dieser Institutionen, die ja als Konsequenz aus zwei Weltkriegen entstanden: allen voran der Europäischen Union, aber auch der Nato, der OSZE, mit Abstrichen der UN.

Was wäre denn ohne den Beitritt der Balten, der Tschechen oder der Bulgaren in EU und Nato geschehen? Es hätte zwischen Russland und dem alten Westen einen Korridor der Unsicherheit gegeben, des wieder aufbrechenden Hasses zwischen den Nationen, der Suche nach Schutzmächten, die sich drohend gegenüber gestanden hätten - wie Österreicher und Russen Ende Juni 1914, wie auf dem Balkan in der Zwischenkriegszeit oder nach dem Zerfall Jugoslawiens 1991.

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Anders als die Bündnisse von 1914, deren Mechanismen nur noch schneller in den Ersten Weltkrieg führten, halten die gemeinsamen Institutionen heute zumindest auf eigenem Boden die alten, destruktiven Kräfte fern oder dämmen sie ein; sie verpflichten ihre Mitglieder zu Regeln für den Konfliktausgleich.

Sicherlich, die EU ist, ob durch Euro-Krise oder das Gezerre nach den Wahlen zum Europaparlament, unpopulär. Die Nato ist in Afghanistan gescheitert; und dass auch Demokratien nicht davor gefeit sind, aus schlechten Gründen mörderische Kriege vom Zaun zu brechen, zeigt Sarajevo 1914 nicht weniger als der unselige Irakfeldzug der USA 2003. Was daraus erwuchs, derzeit der Vormarsch einer fanatischen Kalifatsarmee, ist jeden Tag zu sehen.

Dennoch: Die Institutionen der Gemeinsamkeit verdienen, bei allen Mängeln, die Geringschätzung nicht, die auch hierzulande so modisch ist. Denn das geeinte Europa freier Völker ist, selbst wenn es in vielen Fragen uneins sein mag, das beste Instrument zur Verhinderung von Kriegen, das es jemals gab.

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