Und täglich grüßt das Videotier: Das Arbeits- und Privatleben spielt sich derzeit hauptsächlich vor den Kameras von Computern und Smartphones ab. Besprechungen finden nicht mehr in echten Räumen mit echten Menschen statt, man kommuniziert mit verpixelten Kacheln. Früher hat man sich bei Konferenzen manchmal gewünscht, der Wortschwall eines Kollegen würde mitten im Satz hängen bleiben und seine Mimik einfrieren. Wenn so etwas im virtuellen Raum zum zehnten Mal passiert, nervt es gewaltig. Abends geht es dann privat weiter mit dem Videoblabla. Am Ende des Tages schwirrt einem der Schädel - und man stellt sich ernsthaft die Frage: Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?
Videokonferenzen verändern die Arbeitswelt, die Schule und das Privatleben. Sie bringen viele Vorteile - aber sie können einem auch extrem auf den Zeiger gehen. "Zoom Exhaustion and Fatigue" nennt Jeffrey Hancock das Phänomen, Erschöpfung und Müdigkeit durch Videokonferenzen. Hancock ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Stanford University, er hat mit seinem Team mehr als 10 000 Teilnehmer von Videokonferenzen über ihre Erfahrungen mit Zoom, Teams, Skype und anderen Diensten befragt (natürlich am Bildschirm). Hauptergebnis der Studie: Videokonferenzen sind viel anstrengender als persönliche Treffen.
Corona-Wörter:Morgens immer mütend
Die Mischung aus "wütend" und "müde" beschreibt gerade ein allgemeines Gefühl. Dabei bräuchte es noch viel mehr Wortneuschöpfungen.
Ein Hauptgrund für den Video-Überdruss ist offenbar, dass man sich bei den meisten Konferenzen auch selbst sieht. Um herauszufinden, was an den Videocalls nervt und warum, haben die Wissenschaftler eine Skala entwickelt, die die psychologischen Effekte beim Online-Konferieren misst, und im Februar und März eine weltweite Umfrage dazu gestartet.
Wie die kürzlich veröffentlichte Stanford-Studie zeigt, sind Frauen durch die Videocall-Software stärker gestresst als Männer. Eine von sieben Frauen, aber nur einer von 20 Männern gibt an, sich nach Videokonferenzen "sehr" bis "extrem" geschlaucht zu fühlen. Und jüngere Personen, egal welchen Geschlechts, fühlten sich schneller müde als ältere.
Sich ständig selbst zu sehen stresst - egal, ob im Spiegel oder in Videokonferenzen
Es kommt einem so vor, als grassiere die Zoom-Fatigue schon seit Beginn der Pandemie vor einem Jahr. "Aber jetzt haben wir quantitative Daten darüber und wissen vor allem, warum es schlimmer ist für Frauen", sagt Kommunikationswissenschaftler Jeffrey Hancock. Dies liege an einem Phänomen, das Sozialpsychologen als "selbstbezogene Aufmerksamkeit" bezeichnen. Da man bei Videokonferenzen nicht nur ständig beobachtet wird, sondern sich auch zusätzlich selbst sieht, führt das zu einer multiplen Selbstbespiegelung, was Stress auslösen kann.
Die Sorge, man könnte optisch und verbal einen schlechten Eindruck machen, überlagert irgendwann den sachlichen Inhalt der Kommunikation. Im fortgeschrittenen Stadium fühlt man sich dann in selbstreferenzielle Schleifen verstrickt wie die Hauptfigur von Thomas Glavinics Roman "Das bin doch ich!"
Frauen neigen stärker als Männer dazu, sich im Spiegel zu betrachten und abzuschätzen, wie sie auf andere Personen wirken, wie Studien zeigen. Dabei ist es offensichtlich egal, ob es sich um einen realen Spiegel, soziale Netzwerke oder Videokonferenzen handelt. Sie empfinden es als Zoommutung, dass sie ständig im Bild sind.
Frauen sorgen sich insgesamt mehr um ihr Image als Männer, Forscher sprechen von "Spiegel-Angst". Außerdem verkneifen sie sich im virtuellen Raum oft nonverbales Kommunikationsverhalten, das in normalen Gesprächen üblich wäre: Sie vermeiden es, sich über die Haare zu streichen oder ins Gesicht zu fassen, aus Sorge, so etwas könnte unseriös wirken. Männer sind da deutlich unempfindlicher: Sie erscheinen bei Videokonferenzen auch vor 150 Zuschauern mit Dreitagebart und fettiger Lockdownfrisur, tragen fünf Tage lang hintereinander den gleichen Pullover, kratzen sich am Doppelkinn und bohren in der Nase. Nicht schön für die anderen Teilnehmer, aber gesund für die eigene Psyche.