Provinzen am Schwarzen Meer:Dutzende Tote nach Überschwemmungen in der Türkei

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Ein Luftbild zeigt das Ausmaß der Zerstörung durch die Überschwemmung in der türkischen Stadt Bozkurt. (Foto: Mustafa Kaya/imago images/Xinhua)

Der türkische Innenminister spricht von der "schlimmsten Flutkatastrophe, die ich je gesehen habe". Betroffene und Oppositionelle werfen der Regierung vor, für das Ausmaß der Katastrophe verantwortlich zu sein.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Nach den verheerenden Waldbränden wird die Türkei von einer neuen Naturkatastrophe heimgesucht: Bei Starkregen und Überschwemmungen an der Schwarzmeer-Küste kamen offiziellen Angaben zufolge bis Sonntagmittag mindestens 58 Menschen ums Leben. Fast 80 Menschen werden vermisst. Besonders schwer betroffen sind die Schwarzmeer-Provinzen Kastamonu, Bartın und Sinop. Dörfer und Stadtteile wurden zerstört und teilweise weggeschwemmt, Bewohner mussten mit Booten und Helikoptern gerettet werden. Insgesamt wurden bereits 1500 Menschen aus dem Flutgebiet in Sicherheit gebracht. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu sagte bei einem Besuch der Region: "Das ist die schlimmste Flutkatastrophe, die ich je gesehen habe."

Medienberichten zufolge stand das Wasser zeitweise an einigen Orten fünf Meter hoch. Erdbraune Fluten rissen Autos, Lkws und schwere Baufahrzeuge mit sich. Zudem richteten frisch gefällte Bäume schweren Schaden an, als die an den Straßenrändern aufgestapelten Stämme von den Fluten mitgerissen wurden. Auf Fernsehbildern und in den sozialen Medien waren eingestürzte Gebäude und zerstörte Straßenzüge zu sehen. Auch mehrere Brücken stürzten dem staatlichen Fernsehsender TRT zufolge ein.

Die Kleinstädte Bozkurt und Babacay waren besonders schwer betroffen. Bozkurt liegt an einem ausgetrockneten Flussbett, dass sich durch den Starkregen überraschend schnell mit reißenden Fluten füllte: Das Hochwasser riss Häuser, die an den ehemaligen Flussufern errichtet waren, mit sich. Ein Video in den sozialen Medien zeigt einen unbekannten Mann, der aus seinem Auto auszusteigen und sich vor der Flutwelle in ein Haus zu retten versucht. Während eine Bewohnerin vom Fenster fassungslos zusieht und hilflos schreit, wird der Mann von der Flutwelle mitgerissen und verschwindet im Wasser. In Bartin wurde eine alte Frau vor ihrer Haustüre vom Wasser mitgerissen. Die Leiche der 85-Jährigen wurde 600 Meter von ihrem Haus entfernt gefunden.

Von einer Drohne aus wurde am Samstag diese Luftaufnahme über Bozkurt gemacht. (Foto: REUTERS)

Staudammschleusen zu schnell geöffnet?

Präsident Recep Tayyip Erdoğan war am Freitag in das Katastrophengebiet geflogen und hatte an der Beisetzung mehrerer Opfer teilgenommen. Der Staatschef sagte laut der Agentur Anadolu: "Der Staat wird alles Nötige so schnell wie möglich tun. Wir werden uns hoffentlich schnell aus diesen Ruinen wieder erheben." Der Präsident erklärte, dass auch andere Staaten unter schweren Naturkatastrophen litten. "Wie viele Orte der Erde kämpft unser Land mit solchen Katastrophen. Das passiert auch in den USA, in Kanada und in Deutschland."

Wie schon bei der Brandkatastrophe an der Ägäis- und Mittelmeerküste, bei der in den vergangenen zwei Wochen acht Menschen gestorben und Waldflächen von der dreifachen Größe des Bodensees verbrannt waren, warfen ein Teil der Bewohner und die Opposition der Regierung vor, für das Ausmaß der Katastrophe verantwortlich zu sein. Man habe die Menschen nicht schnell genug vor der Flutgefahr durch die heftigen Regenfälle gewarnt. Zudem habe man den Katastrophen- und Naturschutz über Jahre vernachlässigt und bei Bauprojekten die Hochwasservorsorge komplett missachtet.

Als eine der Ursachen für das ungewöhnliche Ausmaß des Hochwassers in Bozkurt etwa wird von der Opposition und in den sozialen Medien der Bau eines privaten Staudamms samt eines Wasserkraftwerks zur Stromerzeugung genannt. Der Damm bei Bozkurt sei 20 Kilometer vom Ort entfernt. Möglicherweise seien während des Starkregens die Schleusen überraschend schnell geöffnet worden, weil die Staumauer dem durch den Starkregen rasant steigenden Wasserdruck nicht länger habe standhalten können. Das jedenfalls schreibt die Zeitung Cumhuriyet, sie beruft sich auf die Zeitung Yeniçağ.

Dieses Blatt hatte über eine angeblich vorausgegangene Alarmmeldung berichtet, die der Staudamm-Betreiber von Bozkurt veröffentlicht habe. Diese habe die Bevölkerung über digitale Medien darauf hingewiesen, dass man die Schleusen sehr schnell öffnen müsse. Man bitte die Menschen darum, sich darauf vorzubereiten. Die örtliche Verwaltung dementierte diesen Bericht allerdings als unrichtig.

Vorwürfe an AKP

Auch der ehemalige Staatssekretär des Umwelt- und Urbanisierungsministeriums, Mustafa Öztürk, machte den Staudamm-Bau für das Ausmaß der Katastrophe verantwortlich. "Wer es gestattet hat, Häuser auf ausgetrockneten früheren Flussbetten zu errichten und dazu solche Staudämme zu bauen, trägt die Verantwortung", schrieb der frühere Staatssekretär auf Twitter. Er belastete damit die Regierungspartei AKP: Die örtlichen Bürgermeister gehören großteils zur AKP, der Partei von Präsident Erdoğan.

Die meisten türkischen Medien berichten aber relativ wenig und vor allem sehr regierungstreu über die Flutkatastrophe: Die Regierung hatte schon während der jüngsten Feuerkatastrophe ausdrücklich angedroht, rechtlich gegen Medien vorzugehen, die durch ihre Berichterstattung "Panik und Angst auslösen".

In den gebirgigen Schwarzmeer-Regionen der Türkei kommt es in den Sommermonaten häufig zu sehr heftigen Niederschlägen, Hochwasser und Schlammlawinen. Wie bei den verheerenden Waldbränden im Süden und Südwesten verweisen Experten und Wissenschaftler aber auch darauf, dass Häufigkeit und Ausmaß solcher Naturkatastrophen als Folge des globalen Klimawandels weiter zunehmen werden. Der türkische Wetterdienst sagt für die kommenden Tage weiteren Starkregen voraus und warnt vor erneuten Hochwassern an Teilen der östlichen Schwarzmeerküste.

Auch bei den inzwischen weitgehend gelöschten Waldbränden im Süden ereignete sich eine weitere Katastrophe: In der Nähe von Adana stürzte ein russisches Löschflugzeug vom Typ Beriew-200 ab. Alle Menschen an Bord, fünf Russen und drei Türken, kamen ums Leben.

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