#Swedengate:"Verdammt wilder Scheiß"

Lesezeit: 3 min

Manche Schweden sehen im Abendessen ein privates Familienritual, andere sagen: Das Nichteinladen hat bestimmt mit Respekt vor den Nachbareltern zu tun. (Foto: imago images/Maskot)

Sind die Schweden knausrig? Oder gar unsozial, weil sie ihre Nachbarskinder nicht am Abendessen teilnehmen lassen? Wie eine im Internet viral gegangene Anekdote das Gewissen einer ganzen Nation aufwühlt.

Von Kai Strittmatter, Kopenhagen

Das waren keine guten Tage für Schweden. Vor einer Woche noch war das Land die Heimat von Schären im glitzernden Meer, von Weltklasse-Pop und Ikea, unerreicht in Sachen Gleichheit, Feminismus und mit Kardamom veredelten Zimtschnecken. Nun, ein paar gewaltige Social-Media-Stürme und dem Hashtag #Swedengate später sind die Schweden das Volk, das unschuldige Nachbarskinder dem Hunger aussetzt.

Ein Tweet von Anfang dieser Woche fasst die Stimmung zusammen: "Mehr als 100 Jahre lang galt Schweden als so ein guter Platz zum Leben, und nun hat ein Screenshot es ruiniert."

Gemeint war der Screenshot aus einem Reddit-Forum, in dem ein Nutzer den Schwarm fragte, was denn das Merkwürdigste gewesen sei, das sie bei anderen Leuten zu Hause aufgrund deren Kultur erlebt hatten. Woraufhin Nutzer Wowimatard erzählte, wie er als Kind einst einen schwedischen Freund besuchte. "Und während wir in seinem Zimmer spielten, rief seine Mutter, dass das Essen fertig sei. Und jetzt passt auf. Er sagte mir, ich solle in seinem Zimmer WARTEN, solange sie aßen. Das war verdammt wilder Scheiß."

Nachdem sich zum Entsetzen vieler ("Als Italiener ... NIEMALS") herausstellte, dass die Anekdote eine in Schweden zumindest früher verbreitete Praxis wiedergab, trendete der Screenshot unter #Swedengate schnell auf Twitter. Es entbrannte eine heftige Debatte über Gastfreundschaft und Essenskultur, die sich bald auflud mit einer gehörigen Portion Hysterie, und sodann daran ging, Schwedens dunkelste Geheimnisse zu enthüllen.

Schnell zogen einige eine direkte Linie vom Kindern vorenthaltenen Abendessen zu anderen Menschenrechtsverletzungen, und entlarvten Schweden als eigentliche Heimstatt von Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus. "Endlich", las man auf dem Twitter-Konto @AfroPropaganda: "Die Gerechtigkeit holt Schweden ein."

Nein, die Russen stecken diesmal nicht dahinter

Als bald auch Teile der Weltpresse begannen, die Schweden auf die Couch zu legen, meldete sich in Stockholm die Behörde für psychologische Verteidigung zu Wort, gegründet, um die Schweden vor Einflussoperationen fremder Mächte zu schützen. Im letzten Monat erst hatte eine russische Kampagne die Pippi-Langstrumpf-Schöpferin Astrid Lindgren als Nazi verleumdet. Das Amt habe sich nun auch #Swedengate angeschaut, meldete Aftonbladet, aber nein, es handle sich diesmal wohl "nicht um einen gezielten Angriff auf Schweden".

Ein organisch gewachsener Shitstorm also, rund um nie gegessene Fleischbällchen. Erheiternd dabei - vor allem angesichts einiger etwas gewichtigerer Weltgeschehnisse derzeit - der bittere Ernst, mit dem der Sache bis heute zu Leibe gerückt wird, bis hin zum australischen Anthropologen Timothy Heffernan. Der breitete im Sydney Morning Herald ausführlich seine Recherchen zur nordeuropäischen Essenskultur aus, die in der Enthüllung gipfelten, dass er zumindest im mit Schweden weitläufig verwandten Island sehr wohl einmal zum Essen eingeladen worden sei. Das Filmportal wegotthiscovered.com befand, man sehe den Film "Midsommar" nun in ganz neuem Licht. "Midsommar" ist ein Horrorfilm aus dem Jahr 2019, in dem eine Gemeinschaft blonder und blumengekränzter Schweden ihre Älteren genauso über die Klinge springen lässt wie ihre zum Fest geladenen Gäste. (Immerhin werden die Gäste im Film zuvor reichlich bewirtet.)

Und weil Schweden Schweden ist, werden die kulturellen und sozialen Hintergründe von #Swedengate nun selbstverständlich nirgendwo mit derart erschöpfender Ernsthaftigkeit ausgeleuchtet wie in Schweden selbst, wo die leicht erschrockenen Debattierer fragen: Sind wir wirklich so? Für jeden Schweden, der sich nicht erinnern konnte, als Kind jemals vom Essen bei den Nachbarn ausgeladen worden zu sein, fanden sich zwei, die eben diese Praxis bestätigten.

Unsicherheit als Grund?

In Radio- und Fernsehstudios wurden Historiker und Ethnologen aufgefahren. Man suchte die Wurzeln der Praxis in vergangenen Hungersnöten ebenso wie in den Bräuchen der alten Wikinger, die einem demnach mit einer Essenseinladung eine Schuld aufnötigten, die es dann wieder abzuzahlen galt. Manche sahen im Abendessen ein privates Familienritual, andere suchten die Erklärung im Respekt vor den Nachbareltern, die gewiss schon ihr eigenes Essen vorbereitet hatten. Die Kochbuchautorin Lotta Lundgren machte eine allgemeine "Unsicherheit" als Grund aus: "Was wir jeden Tag zu Hause essen, empfinden wir als gut genug für uns, aber nicht als gut genug, um es anderen vorzusetzen."

Die erfrischendsten Beiträge kamen von Leuten, die sich über all die Aufregung wunderten. "Wo ist das Problem?", fragte die Schriftstellerin Linda Johansson im Independent : "Das war mir als Kind echt egal. Ich habe einfach weitergespielt, während die Gastgeber ihr Abendbrot aßen." Die Autorin Emma Bouvin beschreibt sich in Dagens Nyheter als extrem heikles Kind und erinnert sich an "eine wundervolle Zeit": "Gabbi ging aus dem Zimmer und aß. Ich spielte weiter", schildert sie die Playdates bei ihrer besten Freundin. "Ich habe nie bei Gabbi zu Abend gegessen. Es war toll. Ich hätte es nicht anders gewollt."

Einen salomonischen Vorschlag machte in derselben Zeitung der Autor Andreas Hörmark. Schon möglich, schrieb er, dass "wir Schweden ein wenig knauserig" seien. "Und vielleicht sozial etwas unbegabt." Mittlerweile aber seien auch unter Kindern so viele Vegetarier, Gluten-Unverträgliche und Fischhasser, dass man sie gefahrlos zum Essen einladen könne: "Die sagen sowieso Nein. Die Familie steht als barmherzige Samariter da, und bekommt trotzdem den Tisch für sich allein."

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