Neujahrsnacht:Gebongt

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2022 wurde die Generalsanierung des Londoner Wahrzeichens beendet. (Foto: Kin Cheung/AP)

Krisen kommen und gehen, Big Ben bleibt. Seit 1923 läutet die Glocke das neue Jahr im gesamten Vereinigten Königreich ein. Auch in der Nacht auf Montag. Wenn vorher kein Ufo kommt.

Von Martin Wittmann

Das letzte Mal hat der Elizabeth Tower vor sieben Jahren einen auf die Zwölf bekommen, damals explodierten seine Ziffernblätter. Scherben und Flammen überall, so was ziert keine Uhr, und erst recht nicht die bekannteste der Welt. Schon davor hatte den Turm unter anderem ein Blitz getroffen, eine Mumie umgeblasen, ein Ufo abgeschossen, eine Flut unterspült, eine Windhose verschluckt, ein Meteoritenschauer durchlöchert. Einmal hat das Monster Gorgo ihn einfach umgeschmissen, mit links. 2016 schließlich: "London Has Fallen", buchstäblich an der Uhr gedreht. Der Actionfilm aus den USA wirbt mit dem lädierten Wahrzeichen, das gemeinhin als Big Ben bekannt ist, auch wenn Big Ben eigentlich der Name der schwersten der fünf Glocken des Turms ist.

Die Zerstörungswut der Filmemacher, die der 96 Meter hohe Uhrenturm des Palace of Westminster provoziert, spricht nur für seine Unverwechselbarkeit: Fällt Big Ben, wissen die Zuschauer, dass London fällt. Mindestens sieben Mal ist der Tower im Kino in die Luft gejagt worden, heißt es auf der Website des britischen Parlaments, das im Palace of Westminster sitzt.

Prominenter als über Leinwandauf- und -abtritte ist Big Ben in Großbritannien aber durch den Rundfunk geworden: Seine am 31. Dezember mitternachts live ins Vereinigte Königreich gesendeten Glockenschläge läuten traditionell ein neues Jahr ein, und das seit hundert Jahren. In den britischen Wohnzimmern zu hören waren die Klänge erstmals in der Nacht auf Neujahr 1924, dank der BBC. Deren Mitarbeiter A. G. Dryland war damals mit einem Mikrofon auf ein Hausdach gegenüber dem Turm geklettert und hatte den Sound aufgenommen: zwölf Mal "bong".

Big Ben ist 13,5 Tonnen schwer, aufgenommen vor der Generalsanierung im August 2017. (Foto: Victoria Jones/AFP)

Uhrtürme mit Schlagwerk gab es an der Stelle, an der heute Big Ben läutet, schon seit Mitte des 14. Jahrhunderts. Das heutige Gebäude aber wurde erst nach 1834 errichtet, dem Jahr, in dem der Westminsterpalast (wirklich) abgebrannt ist. Zwanzig Jahre später wurde die Uhr am Neubau fertiggestellt, am 11. Juli 1859 läuteten zum ersten Mal ihre Glocken. Die größte schlägt seither zu jeder vollen Stunde. Stumm blieb sie in der Vergangenheit selten, aber doch immer mal wieder. Stare auf den Zeigern, Eis in der Mechanik, defekte Zahnräder, dazu das Alter, gerade an einer Uhr geht die Zeit ja nicht spurlos vorüber. Zuletzt wurde der Elizabeth Tower einer Generalsanierung unterzogen und erst 2022 wieder regulär hörbar gemacht. Aber selbst in den fünf Jahren, in denen der Turm eine Baustelle war, wurde die große Glocke in Ausnahmefällen wieder aufwendig zum Läuten gebracht, etwa bei der Beerdigung der Queen und eben an Neujahr.

Sieben Monarchen, zwei Weltkriege, diverse Wirtschaftskrisen, einen EU-Austritt, eine Pandemie und einen Boris Johnson hat das Königreich seit dem ersten Glockenläuten erlebt, und ein Ende ist nicht in Sicht. Der Turm, der in Filmen keine 90 Minuten durchhält, ist in Wirklichkeit der Inbegriff von Beständigkeit, geschätzt gerade in Zeiten, in denen auf wenig Verlass zu sein scheint, also eigentlich immer. Auch von Sonntag auf Montag, von 2023 auf 2024, werden die "Bongs" wieder zu hören sein in britischen Wohnzimmern, so Gorgo will.

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