Psychologie:Warum wir keine Angst zeigen sollten

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Am Sonntagabend gedenken Pariser Bürger den Opfern der Attentate. (Foto: REUTERS)

Im Moment hat die Panik Paris fest im Griff - womit die Attentäter ihr Ziel erreicht haben.

Von Barbara Vorsamer

Am Sonntagabend schien Paris kurzzeitig zur Normalität zurückkehren. Lange Schlangen bildeten sich vor den Kinos, die Restaurants waren voll, viele Menschen gedachten der Toten. Dann schrie irgendwer "Sie schießen! Rennt!" Hunderte Leute, gerade noch ruhig und versonnen, stürzten schreiend los, flohen in Supermärkte, trampelten die Regale um, schluchzten und schrien (ausführlich beschreiben SZ-Reporter die Stimmung in Paris in dieser Seite-Drei-Reportage).

Am Ende stellte sich heraus: Nichts war passiert. Doch die Angst hat Paris fest im Griff.

"Das ist der Zweitschlag", erklärt Psychologe Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz am Berliner Max-Planck-Institut. Er unterscheidet bei terroristischen Anschlägen zwischen dem Erstschlag - "das, was am Freitag in Paris passiert ist" - und dem, was danach kommt: Die Menschen haben Angst und verhalten sich nicht mehr rational.

"Das kann ganz konkrete Folgen haben", sagt Gigerenzer. "Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wollten viele Amerikaner nicht mehr fliegen und stiegen stattdessen ins Auto - weswegen im Jahr danach 1600 Menschen mehr bei Autounfällen starben als sonst." Für die Relation: Bei den Anschlägen selbst kamen etwas mehr als 3000 Menschen ums Leben.

Münkler fordert seit 9/11 "heroische Gelassenheit"

Wenn Menschen sich jetzt nicht mehr trauen, Restaurants, Konzerte oder Fußballspiele zu besuchen und wenn sie politischen Maßnahmen zustimmen, die die Freiheit aller einschränken, dann haben Terroristen ihr Ziel erreicht. "Das Ziel des IS waren nicht die Individuen, die am Freitag erschossen wurden", sagt Gigerenzer. "Das Ziel ist die ganze Gesellschaft, wir alle."

Politikwissenschaftler Herfried Münkler fordert daher seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York immer wieder "heroische Gelassenheit" von den westlichen Gesellschaften. Darunter versteht er, bewusst so normal wie möglich weiter zu leben und auch nicht der Versuchung zu erliegen, mit übersteigerten Sicherheitsmaßnahmen auf die Bedrohung zu reagieren.

Als positives Beispiel gilt in diesem Zusammenhang die Reaktion des norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg auf die Breivik-Attentate. 2011 hatte Anders Behring Breivik auf der Insel Utøya 69 Menschen erschossen, bei einem Bombenanschlag in Oslo kamen zeitgleich acht Menschen ums Leben. Stoltenberg sagte damals: "Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit." Solche Worte wünschen sich Risiko-Experten wie Gigerenzer nun auch von französischen und deutschen Politikern.

Der französische Präsident François Hollande spricht allerdings lieber vom Krieg gegen eine terroristische Armee und kündigt an, unerbittlich gegen die Barbaren des IS vorgehen zu wollen. Nachdem im Januar die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo Opfer eines Terroranschlags geworden war, hatte sich Hollande noch gemäßigter geäußert. "Frankreich ist heute die Hauptstadt der Welt", sagte er damals. "Das ganze Land wird sich erheben zu etwas Besserem."

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Doch was kann der einzelne tun, um sich im Alltag nicht vor Angst gelähmt zu fühlen? Die Antwort von Psychologen ist wie so oft: Reden und sich Unterstützung suchen.

Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth, der sich mit den Auswirkungen von Terroranschlägen beschäftigt, sagt: "Natürlich sind die Menschen in Paris gerade sehr ängstlich, das Gefühl der Bedrohung ist verbreitet. Jetzt ist es wichtig, miteinander über die Angst zu sprechen und sie zu relativieren." Sich gegenseitig zu bestärken und keinesfalls gesellschaftliche Unternehmungen aus Angst sein zu lassen, sei gerade jetzt sehr wichtig.

Auch aktiv zu werden und zu handeln hilft Wirth zufolge der Seele. Er sieht durchaus Handlungsmöglichkeiten für den Einzelnen. Der aktuelle Terrorismus komme nicht von weit weg, sondern aus dem Inneren unserer Gesellschaft. Ein völlig neues Bedrohungsgefühl. "Der IS ist weit weg. Doch die Täter von Paris waren quasi unsere Mitbürger."

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Bessere Integration sei nicht nur ein Problem der Staatsoberhäupter, sondern auch eine kommunalpolitische und gesellschaftliche Herausforderung. Hier könne jeder etwas leisten - und sich dadurch auch selbst helfen. "Zum Beispiel kann Engagement für sozial schlecht gestellte Jugendliche das Gefühl stärken, handlungsfähig zu sein", sagt Wirth.

Das Risiko ist immer noch gering

Die Wahrscheinlichkeit, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen, ist auch heutzutage noch nicht hoch. Zwar kann sich das jederzeit ändern, die Zukunft ist nicht berechenbar. Gerd Gigerenzer sagt dennoch: "In Deutschland gab es zwischen 2001 und 2010 abgesehen von den Morden des NSU keine Toten durch Terrorismus. Der normale Mensch müsste sich daher eigentlich eher vor anderen Dingen fürchten, vor Zigaretten etwa oder vor einem Verkehrsunfall. Doch Schockrisiken machen den Menschen mehr Angst."

Bei Katastrophen wie Flugzeugabstürzen oder Terroranschlägen kommen plötzlich und unerwartet viele Menschen ums Leben. Der Schock führt dazu, dass die Gefahr überschätzt wird im Vergleich zu alltäglichen Risiken, an denen zwar insgesamt mehr Menschen sterben, aber eben kontinuierlich statt alle auf einmal.

Die Wahrscheinlichkeit, beim Ausgehen erschossen zu werden, war auch vergangenen Freitag in Paris gering. Trotzdem ist es passiert. Mindestens 129 Menschen kamen ums Leben. Ihnen und allen, die um sie trauern, hilft der Verweis auf ein geringes Risiko natürlich nichts.

Doch unseren Alltag wieder möglichst normal zu leben und all die Freiheitsrechte, die wir haben, zu nutzen anstatt sie vor Angst einzuschränken, ist die einzig wahre Möglichkeit, dem Terror die Stirn zu bieten. Wie schlimm ein Attentat ist, kann der Einzelne nicht beeinflussen. Wie sehr sich eine Gesellschaft von der Angst verändern lässt, schon.

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