Prozesse - Lübeck:Exhibitionismus: Freispruch im Lübecker Weißer-Ring-Prozess

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Lübeck (dpa/lno) - Das Amtsgericht Lübeck hat am Donnerstag den ehemaligen Leiter des Weißen Rings Lübeck vom Vorwurf des Exhibitionismus freigesprochen. "Trotz der umfassenden Beweisaufnahme sind Zweifel daran geblieben, dass der Angeklagte die ihm vorgeworfene Tat wirklich begangen hat", sagte Richterin Andrea Schulz in der Urteilsbegründung. Deshalb habe der heute 74-Jährige freigesprochen werden müssen.

Die Staatsanwaltschaft, die eine Bewährungsstrafe von drei Monaten beantragt hatte, will nach Angaben ihrer Sprecherin Ulla Hingst gegen das Urteil Berufung einlegen. Der Vertreter der Nebenklägerin hat sich zu der Frage zunächst nicht geäußert.

Ursprünglich hatten 29 Frauen H. vorgeworfen, sie sexuell belästigt oder bedrängt zu haben - meist bei Beratungsgesprächen. In vier Fällen hatte die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben, doch nur dieser eine Fall war vom Gericht zur Verhandlung zugelassen worden.

"Mein Mandant ist sehr erleichtert über den Freispruch", sagte sein Verteidiger Oliver Dedow nach der Urteilsverkündung. "Das Verfahren hat ihn sehr mitgenommen, und er möchte jetzt schnellstmöglich mit dem Thema abschließen". H. hatte das Gericht unmittelbar nach dem Freispruch verlassen. Ob er sich über das Urteil freute oder nicht, war ihm nicht anzusehen.

Die Anklage hatte dem 74-Jährigen vorgeworfen, sich im April 2016 bei einem Beratungsgespräch gegenüber einer heute 41 Jahre alten Frau entblößt zu haben. Er soll sie aufgefordert haben, ihm ihre Scham und ihre Brüste zu zeigen und ihn zu berühren. H. - ein pensionierter Polizeibeamter - hat dies bestritten.

Die Aussagen der Nebenklägerin seien in vielen Bereichen unscharf geblieben, sagte Schulz. "So konnte sie sich an Nebensächlichkeiten gut erinnern. Zum Kerngeschehen - also zur eigentlich angeklagten Tat - variierten ihre Angaben von Aussage zu Aussage", sagte die Richterin. Sie verwies auch auf das aussagepsychologische Gutachten einer Sachverständigen. Sie war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Nebenklägerin die Episode aufgebauscht oder sogar komplett erfunden haben könnte.

Auch auf ein Definitionsproblem wies die Richterin hin. "Unter Exhibitionismus versteht das Gesetz die Entblößung des männlichen Gliedes, um sich sexuell zu erregen. Aber das konnte hier nicht bewiesen werden, so dass eine Verurteilung wegen Exhibitionismus schon deshalb schwierig wäre", sagte Schulz.

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft dagegen hat die Beweisaufnahme die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei bewiesen. "Die Aussagen der Nebenklägerin waren glaubhaft und stringent" sagte Hingst. "Zahlreiche im Prozess befragten Zeuginnen haben ein sexuell motiviertes grenzüberschreitendes Verhalten des Angeklagten geschildert", sagte Hingst am Donnerstag. Diese mutmaßlichen Übergriffe reichten von anzüglichen Komplimenten bis zu Zungenküssen.

"Die sexuellen Übergriffe des Angeklagten sollen hier nicht verharmlost werden", sagte Schulz. "Es ist unstrittig, dass sich der Angeklagte gegenüber den Zeuginnen unangemessen verhalten hat, doch strafrechtlich relevant ist das nicht", sagte sie. Hier sei es um eine exhibitionistische Handlung aus dem April 2016 gegangen, und die habe dem Angeklagten eben nicht mit der vom Gesetz geforderten Sicherheit nachgewiesen werden können, sagte Schulz.

Die Vorwürfe gegen H. waren Anfang 2018 durch einen Rechercheverbund von Journalisten öffentlich geworden und haben den Weißen Ring in seinen Grundfesten erschüttert. Der Landesvorstand trat damals komplett zurück. "Unabhängig von der strafrechtlichen Bewertung hat Herr H. mit seinem Verhalten die hohen Standards unserer Arbeit in der Opferhilfe massiv verletzt", sagte die Landesvorsitzende der Opferschutzorganisation, Manuela Söller-Winkler, am Donnerstag. Beim Weißen Ring gilt seither bei der Betreuung von Opfern von Sexualdelikten das Sechs-Augen-Prinzip.

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