Attentat auf Malcolm X:Ausradierte Geschichte

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Malcolm X zwei Jahre vor seinem Tod bei einer Demonstration in Harlem. (Foto: AP)

Zwei Männer, die für den Mord an US-Bürgerrechtsaktivist Malcolm X 20 Jahre im Gefängnis saßen, werden offiziell entlastet. Eine Untersuchung beweist ihre Unschuld und erhebt schwere Vorwürfe gegen das FBI und die New Yorker Polizei.

Von Moritz Geier

Geschichte, hat der französische Historiker Pierre Gaxotte gesagt, müsse man mit dem Bleistift schreiben. "Es lässt sich leichter radieren." In diesem Sinne sollte man sich die Rekonstruktion des Attentats auf den US-Bürgerrechtsaktivisten Malcolm X im Jahr 1965 in besonders weichem Graphit vorstellen, viele Historiker haben schließlich schon immer gezweifelt an jener Version, die in die Geschichtsbücher gelangte. Und sie hatten recht: Am Donnerstag entlastete ein New Yorker Gericht offiziell zwei der drei Männer, die damals wegen Mordes verurteilt wurden. Beide saßen jahrzehntelang im Gefängnis für einen Mord, den sie - wie man nun endgültig weiß - nicht begangen haben.

Es geht also um einen gigantischen Justizirrtum, und deswegen muss sie jetzt mal wieder neu geschrieben werden, die Geschichte eines der berüchtigtsten Verbrechen der US-Bürgerrechtsära. Die Frage ist nur: Können die Lücken, die der Radiergummi reißt, überhaupt noch gefüllt werden?

Die Umstände seiner Ermordung sind noch immer nicht aufgeklärt: Malcolm X auf einem Bild, das wenige Tage vor seinem Tod aufgenommen wurde. (Foto: Victor Boynton/AP)

Kurzer Rückblick: Am 21. Februar 1965 hält der damals 39-jährige Malcolm X im Audubon Ballroom in Manhattan einen Vortrag, als zwei Männer im Publikum zu streiten beginnen. Die Bodyguards entfernen sich vom Rednerpult, um einzuschreiten, sie ahnen nicht, dass die Szene fingiert ist: Drei Attentäter nutzen die Unordnung und schießen auf Malcolm X, ein Gerichtsmediziner wird später 21 Schusswunden feststellen. Dann explodiert im Saal eine Rauchbombe, zwei der Schützen können im Chaos entkommen. Der dritte, Thomas Hagan, wird am Tatort festgenommen.

Entlastendes Beweismaterial zurückgehalten

Wenig später wird die Polizei zwei Männer verhaften, die mutmaßlichen Mittäter Muhammad Abdul Aziz und Khalil Islam. Alle drei werden 1966 zu langen Haftstrafen verurteilt, Hagan wird erst 2010 wieder freikommen, Aziz und Islam 1985 und 1987 nach 20 Jahren im Gefängnis. Dabei beteuern Aziz und Islam von Anfang an ihre Unschuld, mehr noch: Hagan, der das Attentat gesteht, bezeichnet Aziz und Islam als unschuldig. Seine Komplizen, sagt er, seien andere gewesen.

Die US-Justiz hat 55 Jahre gebraucht, um das zu erkennen. Was auch daran liegen dürfte, dass das FBI, die New Yorker Polizei und die damaligen Staatsanwälte wichtiges Beweismaterial zurückgehalten haben, Beweise gar, die zu einem Freispruch von Aziz und Islam hätten führen müssen, wären sie der Justiz übergeben worden. All das hat eine Untersuchung ergeben, die die New Yorker Staatsanwaltschaft in den vergangenen beiden Jahren gemeinsam mit den Anwälten der beiden Justizopfer durchgeführt hat.

Muhammad Aziz kurz nach seiner Verhaftung im Februar 1965. (Foto: AP)

Seine Verurteilung sei "das Ergebnis eines Prozesses, der bis in seinen Kern korrupt war", sagte Muhammad Aziz, heute 83 Jahre alt, der Nachrichtenagentur AP zufolge in einem ersten Statement. Er brauche kein Gericht, keine Staatsanwälte oder ein Blatt Papier, "um zu wissen, dass ich unschuldig bin". Aber er sei froh, dass die Wahrheit jetzt auch offiziell anerkannt würde. Khalil Islam dagegen hat seinen Freispruch nicht mehr erlebt, er starb 2009.

Laut New York Times hat das FBI damals Dokumente verheimlicht, die den Verdacht auf andere Täter lenkten. Außerdem habe es einen Zeugen unterschlagen, der Aziz' Alibi bestätigen konnte, nämlich, dass er zur Zeit des Attentats mit einer Fußverletzung zu Hause saß. Über die Rollen von FBI und Polizei beim nicht verhinderten Attentat war schon immer viel spekuliert worden. Warum etwa ergriffen sie keine Schutzmaßnahmen, obschon sie doch im Vorfeld der Veranstaltung Hinweise bekommen hatten, dass Malcolm X bedroht wurde?

Differenzen innerhalb der Nation of Islam

Malcolm X war einer der umstrittensten und für viele gleichzeitig auch faszinierendsten Figuren der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Als einer der Wortführer der Nation of Islam (NOI) war er zum Gesicht jener radikalen politisch-religiösen Organisation geworden, die eine Rassentrennung anpeilte, eine jedoch unter schwarzer Vorherrschaft. Im Gegensatz zu anderen Bürgerrechtsikonen wie Martin Luther King Jr. schloss Malcolm X auch Gewalt nicht aus, um Bürgerrechte zu erkämpfen, Weiße bezeichnete er schon mal als "blauäugige Teufel".

Militanter als Martin Luther King: Bürgerrechtsaktivist Malcolm X bei einer Demonstration 1963 in New York. (Foto: AP)

1964 brach er wegen interner Differenzen mit der Nation of Islam, pilgerte nach Mekka und schlug danach versöhnlichere Töne an - ein Schritt, den ihm radikalere NOI-Mitglieder nicht verziehen. Sie drohten ihm, zündeten sein Haus an. Attentäter Thomas Hagan war Mitglied der NOI, als Motiv nannte er Rache für die Kritik, die Malcolm X an NOI-Anführer Elijah Muhammad geübt hatte.

Und wer waren nun Hagans Komplizen? Mit der Frage hat sich zuletzt auch eine Netflix-Doku beschäftigt. Experten gehen mittlerweile von mindestens vier Mittätern aus, alle waren Mitglieder der Newarker NOI-Moschee, die auch Hagan besuchte. Drei dieser Männer sind bereits tot, ob der vierte noch lebt, ist unbekannt. Genau wie die Antwort auf die Frage, wer involviert war beim Planen der Tat. Man muss diesen Teil der Geschichte weiterhin mit sehr, sehr weichem Bleistift zeichnen.

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