Missbrauchsfall in Lügde:"Mario war ein reiner Kindermagnet"

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Ein von der Polizei versiegelter Wohnwagen auf dem Campingsplatz in Lügde. Wie der bislang als Haupttäter geführte Andreas V. hatte auch Mario S. hier eine Parzelle. (Foto: dpa)

Welche Rolle spielte der 34-jährige Mario S. im Missbrauchsfall in Lügde? Die Anklage zeichnet das Bild eines eigenständig agierenden Sexualstraftäters. Schon als Jugendlicher soll er übergriffig geworden sein.

Von Jana Stegemann, Britta von der Heide und Ralf Wiegand

Als der Grundschüler Julian L. (Name von der Redaktion geändert) auf den Spielplatz in seiner Wohnstraße geht, trifft er auf den Nachbarsjungen Mario S., ein paar Jahre älter als er selbst. Beide wachsen in der ostwestfälischen Kleinstadt Steinheim auf, sie kennen sich, der Ältere hat das Zutrauen des Jüngeren - und nutzt es aus. In einer dunklen Ecke des Spielplatzes wird Julian von Mario sexuell missbraucht, ein Kind von einem Teenager.

So soll sich das vor mehr als 15 Jahren zugetragen haben, glaubt die Staatsanwaltschaft Detmold heute. Aus dem übergriffigen Jugendlichen von damals ist nach Ansicht der Ermittler ein Sexualstraftäter geworden: Mario S. soll zu jenen Männern gehören, die auf dem Campingplatz des nordrhein-westfälischen Städtchens Lügde jahrelang Dutzende von Kindern schwer sexuell missbraucht haben sollen.

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Der heute 34-Jährige galt in der öffentlichen Wahrnehmung bisher als Mitläufer des vermeintlichen Haupttäters Andreas V., gegen den die Staatsanwaltschaft Detmold bereits Anklage erhoben hat. Andreas V. werden 293 Fälle von sexuellem Missbrauch an 22 Kindern zur Last gelegt, alles Mädchen, manche erst fünf, keines älter als 14 Jahre alt. Der Prozess gegen ihn soll in diesem Sommer beginnen. Jetzt hat das Landgericht Detmold Details zur Anklage gegen Mario S. veröffentlicht.

Nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR war Mario S. aber mitnichten nur der Adjutant von Andreas V., sondern hat selbst schon Kinder missbraucht, lange bevor er den Dauercamper auf dem Campingplatz "Eichwald" kennenlernte und dort einen eigenen Wohnwagen bezog. Sein Anwalt Jürgen Bogner sagte: "Nach der ersten Akteneinsicht hatte ich tatsächlich den Eindruck, dass es sich hier nur um einen Mitläufer handeln kann, aber mit fortschreitendem Aktenstudium habe ich diesen Eindruck korrigieren müssen. Man muss sagen, dass sich die gegenüber meinem Mandanten angeklagten Taten fast annähern an die des immer so bezeichneten Haupttäters."

Die Parzelle von Mario S. auf dem Campingplatz Eichwald. Hier und in der Behausung von Andreas V. soll es zum massenhaften schweren sexuellen Missbrauch gekommen sein. (Foto: Britta von der Heide)

Opfer soll später zum Täter geworden sein

Laut Anklage, die nun beim Landgericht Detmold liegt und noch zur Hauptverhandlung zugelassen werden muss, war Mario S. ein eigenständig agierender Sexualstraftäter, der auch ohne das Zutun von Andreas V. Kinder missbrauchte. An 18 verschiedenen Kindern - acht Mädchen und neun Jungen unter 14 Jahren - soll sich der Angeschuldigte in den vergangenen zwanzig Jahren vergangen haben, die angeklagten Übergriffe reichen bis zur schweren Vergewaltigung.

Julian L. wäre demnach eines der ersten Opfer von Mario S. gewesen, ihn soll der Angeschuldigte zwischen 1999 und 2001 auf dem Spielplatz seines Heimatortes gepeinigt haben, mindestens drei Mal. Erst im Zuge des Missbrauchsskandals von Lügde, der im vergangenen Januar öffentlich wurde, meldete sich der heute 29-jährige Julian L. bei der Polizei.

Anfangs sollen die Ermittler im Fall von Mario S. noch von Beihilfe zum sexuellen Missbrauch ausgegangen sein - erst nach und nach kam demnach das Ausmaß seiner mutmaßlichen Taten ans Licht. Mehrere Kinder sollen in ihren ersten Vernehmungen noch bestritten haben, Opfer von Mario S. geworden zu sein. Erst nach der Verhaftung des Gelegenheitsarbeiters im vergangenen Januar hätten sich die Kinder getraut, der Polizei von ihren Erlebnissen zu erzählen. Die Mutter mehrerer missbrauchter Mädchen sagte Reportern von SZ, NDR und WDR: "Er wurde verhaftet, und urplötzlich fingen die Kinder an zu reden. Das war irgendwie eine Art Befreiung für die. Und dann haben sie wie ein Wasserfall geredet." Die Frau kannte Mario S. schon länger und sagt rückblickend: "ein reiner Kindermagnet".

Der alleinstehende Mann knüpfte sich nach Ansicht der Staatsanwaltschaft über Jahre ein weitreichendes Netz von Kindern, die er für seine Zwecke manipulierte. Er lockte sie der Anklage zufolge zu sich in den elterlichen Partykeller in Steinheim, andere Kinder soll er auch auf den Campingplatz in Lügde-Elbrinxen eingeladen haben.

Eine Flasche Kindersekt stand vor der mittlerweile abgerissenen Parzelle von Mario S. (Foto: Britta von der Heide)

Dort hatte er nach Erkenntnissen der Ermittler seit 2014/2015 eine eigene Parzelle angemietet. Viele Camper erinnern sich im Nachhinein an diesen Mario S., wie er auf einem Rasenmäher über den weitläufigen Campingplatz fuhr - im Anhänger fröhliche Mädchen und Jungen. Vor seiner Parzelle, sagen Zeugen, hätten immer Kinderräder in verschiedenen Größen geparkt. Monatelang stand eine leere "Kindersekt"-Flasche vor der heruntergekommenen Behausung.

Bevor er selbst eine Parzelle anmietete, habe sich Mario S., der mal als LKW-Fahrer, mal als Reinigungskraft arbeitete, einen Wohnwagen mit einem langjährigen Bekannten geteilt. Mehrere Enkelkinder dieses Mannes soll Mario S. ebenfalls vergewaltigt und missbraucht haben, heißt es aus dem Umfeld der Familie. Auch die anderen Jungen und Mädchen, denen er sexualisierte Gewalt antat, waren demnach Kinder von Freunden, Bekannten und Camping-Nachbarn, die für Urlaube und Freizeitaktivitäten auf den Campingplatz gekommen waren - oder weil die Eltern einen Babysitter gesucht hatten. Diese Kinder brachten nach einiger Zeit häufig ihre Geschwister oder eigene Freunde mit - so fand Mario S. offenbar stets sehr einfach weitere Opfer.

Die Staatsanwaltschaft wirft S. auch den sexuellen Missbrauch eines geistig behinderten Jungen vor. Mario S. soll außerdem kinderpornografisches Material angefertigt haben und insgesamt im Besitz von 4806 kinderpornografischen Bild- und Videodateien gewesen sein. Einem Jungen, den er jahrelang missbraucht haben soll, schickte Mario S. angeblich ein selbstgedrehtes Vergewaltigungs-Video aufs Handy. Der heute 16-Jährige steht inzwischen selbst im Verdacht, Kinder missbraucht zu haben und sitzt in Untersuchungshaft: Das Opfer soll zum Täter geworden sein, fürchten die Beamten.

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Wie Dauercamper Andreas V., auf dessen Treiben schon im Jahr 2016 Hinweise bei den Behörden eingegangen sein sollen, hätte womöglich auch Mario S. früher gestoppt werden können. Weil ein Kind im September 2017 einer Mitarbeiterin des Jugendamts Höxter erzählt haben soll, dass es bei Mario S. im Bett schlafe und der Mann es auf den Mund küsse, erließ die Behörde laut Anklage ein Kontaktverbot gegen Mario S. Zudem habe die Mutter die Auflage bekommen, ihr Kind nicht mehr allein zu Mario S. zu lassen. Das Jugendamt Höxter äußerte sich auf Anfrage nicht zu dem Vorgang. Hinzu kommt, dass die Staatsanwaltschaft Paderborn in den Jahren 2004 und 2013 gegen S. wegen des Verdachts auf sexuellem Missbrauch von Kindern ermittelte - beide Verfahren wurden eingestellt.

Mario S. täuschte sein Entsetzen vor

Über das, was er laut Anklage vielen Kindern antat, soll S. in Chats offen geschrieben haben - vor allem mit dem 56-jährigen Dauercamper Andreas V. Die Ermittler glauben, dass die beiden Männer sich Kinder zum Missbrauch überlassen und gegenseitig dabei zugeschaut haben sollen.

Die Aussagen einer Mutter, deren Kinder auf dem Campingplatz missbraucht worden sein sollen, stützen diese Anschuldigungen: "Ich weiß noch, wie meine Tochter mir das damals erzählt hatte: ,Ich und Mario standen an der Tür, als Addy Maja vergewaltigt hat. Und ich musste stehenbleiben, obwohl ich weggehen wollte. Ich wollte ihr helfen und durfte es nicht. Mario hat mir den Mund zugehalten.'"

Nach der Verhaftung von Andreas V. am 6. Dezember 2018 soll Mario S. gegenüber Eltern von missbrauchten Kindern sein angebliches Entsetzen vorgetäuscht haben, zusätzlich soll er sogar befreundete Mütter von missbrauchten Kindern nach deren polizeilichen Vernehmungen ausgefragt haben. Eine Mutter, die nach der Verhaftung von Andreas V. mit Mario S. redete, erinnerte sich: "Da hat er sich noch aufgeregt über Addy, und wie der das alles tun konnte."

Bei seiner eigenen Verhaftung etwa vier Wochen später war Mario S. dann weniger auskunftsbereit. Seine eigenen Taten soll er kleingeredet, nur einen Bruchteil der 162 ihm zur Last gelegten Übergriffe eingeräumt und sich von Andreas V. distanziert haben. Der 56-jährige Dauercamper belastete ihn jedoch schwer. Anwalt Jürgen Bogner hat seinem Mandanten Mario S. zu einem Geständnis geraten: "Bei 162 Taten sollte der richtige Weg sein, sich gegenüber der Justiz zu offenbaren - nicht zuletzt auch aus Opferschutzgründen."

Eine Gutachterin kam laut Anklage zu dem Ergebnis, dass Mario S. pädophile Neigungen hat; sie hält ihn für voll schuldfähig. Weil bei ihm eine hohe Rückfallgefahr bestehe, beantragt die Staatsanwaltschaft eine Sicherungsverwahrung für den 34-Jährigen.

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