Welche Rolle spielte das Jugendamt des Landkreises Hameln-Pyrmont im Fall des tausendfachen Kindesmissbrauchs auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde? Warum überließ die Behörde dem 56-jährigen hauptverdächtigen Dauercamper 2017 ein sechsjähriges Mädchen als Pflegetochter - obwohl es 2016 mehrere Hinweise auf den Mann gegeben hatte?
Aufklären konnte die niedersächsische Behörde die Vorwürfe bislang nicht - mit der Begründung, die Akten zu dem Fall seien im vergangenen Dezember von der ermittelnden Staatsanwaltschaft Detmold konfisziert worden, es gebe keine Kopien. Mittlerweile erhielt der Landkreis die Akte zurück. Landrat Tjark Bartels (SPD) hat am Dienstag in einer Pressekonferenz eingeräumt, dass eine Jugendamtsmitarbeiterin wenige Tage vor Beschlagnahmung der Akten durch die Staatsanwaltschaft im Dezember 2018 einen Eintrag gelöscht hatte.
Bei der Beweissicherung sei IT-Experten der Staatsanwaltschaft aufgefallen, dass die Akte nachträglich verändert worden war, die Ermittler konnten den am 13. Dezember entfernten Hinweis aber rekonstruieren.
Dabei handelt es sich um ein Genogramm des Hauptverdächtigen V., das die Mitarbeiterin selbst erstellt hatte. Ein Genogramm ist ein Stammbaum, der neben den Familienbeziehungen auch Freundschaften und sonstige Bindungen aufzeigt. Es soll im besten Fall das gesamte soziale System eines Menschen veranschaulichen und auch Rückschlüsse auf Verhaltensmuster zulassen.
Im Fall des 56-jährigen arbeitslosen Dauercampers, der seit Dezember in Untersuchungshaft sitzt, habe die Frau sehr eindeutig folgendes wiederkehrendes Muster erkannt, sagte Bartels: "V. hat über Jahre immer wieder Kontakt zu jüngeren Mädchen gesucht und sie dann in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht." So sei es auch schon im Fall der Mutter des Pflegemädchens gewesen, die ihre Tochter mit 16 Jahren bekommen und das Mädchen schon als Baby immer wieder zu V. auf den Campingplatz gebracht hatte. Im Mai 2016 übertrug sie V. das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihr Kind; vor einer Jobcenter-Mitarbeiterin prahlte der arbeitslose Dauercamper mit einer "Schenkungsurkunde".
Die Ermittler gehen von mehr als 34 Mädchen und Jungen aus, die zu den Opfern des massenhaften sexuellen Missbrauchs auf dem Campingplatz "Eichwald" zählen. Dabei soll die Pflegetochter des Hauptverdächtigen nicht nur Missbrauchsopfer gewesen, sondern auch als Lockvogel eingesetzt worden sein. Im Kreisausschuss in Detmold teilte der Chef des Jugendamts Lippe, Karl-Eitel John, am vergangenen Montag mit, dass fünf Kinder im Zusammenhang mit dem Fall Lügde in Obhut genommen wurden. Nach Angaben des NRW-Innenministeriums von Mittwoch handelt es sich um vier Kinder eines alleinerziehenden Vaters, von denen drei Opfer des Missbrauchs auf dem Campingplatz geworden seien. Das vierte Kind sei vorsorglich in Obhut genommen worden. Der Vater werde schon länger der Beihilfe zum Missbrauch verdächtigt und gehört zum Kreis der sieben Tatverdächtigen im Fall Lügde.
Vier Monate nicht besucht
"Das Muster, das die Jugendamtsmitarbeiterin erkannte, ist wohl ein Lehrbuchhinweis auf Pädophilie", sagte Bartels. Trotzdem alarmierte die Mitarbeiterin niemanden. Sie ist mittlerweile vom Dienst freigestellt, ebenso wie der Jugendamtsleiter. Am 15. Februar war bereits bekannt geworden, dass dieser nachträglich die Akte manipuliert hatte, um zu vertuschen, dass V. und seine Pflegetochter vier Monate lang nicht vom sozialpädagogischen Dienst besucht worden waren. Mit dem Fall der Pflegetochter und ihrer Familie waren Bartels zufolge seit 2011 zehn bis zwölf Personen befasst. Das Zusammenspiel mit dem Jugendamt Lippe und der Polizei Lippe sei nicht optimal gewesen, bedauerte der Landrat. Der Fall Lügde weitet sich auch immer mehr zu einem Polizeiskandal aus, so verschwanden unter anderem155 Datenträger mit mutmaßlich kinderpornografischen Inhalten aus einer Asservatenkammer der Polizei. Mehrere Beamte von der Polizei Lippe wurden bereits versetzt oder suspendiert.
Eingestehen musste Bartels auch, dass dem Jugendamt insgesamt vier Hinweise auf Dauercamper V. vorlagen. Innerhalb eines halben Jahres haben demnach im Jahr 2016 eine Jobcenter-Mitarbeiterin zweimal sowie ein Vater und eine Kindergarten-Psychologin je einmal einen entsprechenden Verdacht auf sexuellen Missbrauch und Pädophilie geäußert. Die Psychologin habe ein "ungutes Gefühl" gehabt und das auch explizit geäußert. Da könne "Pädophilie im Spiel sein", zitierte Bartels die Frau. Die Hinweise seien alle in den Akten vermerkt.
Bislang hatte Bartels gesagt, dass das Jugendamt nur Hinweise auf unpassende Wohnverhältnisse bekommen habe. Dass allein schon die völlig vermüllte Parzelle des Dauercampers eine Kindeswohlgefährdung darstelle, dem widersprach Bartels: "Unschöne Randbedingungen sind kein Hinweis auf Pädophilie."
V. habe es dennoch geschafft, das gesamte Pflegesystem zu täuschen, so der Landrat. "Egal, wen man gefragt hat, was V. für ein Typ war, die Antworten waren immer gleich: eine rheinische Frohnatur, eher bollerig, bisschen schräg, schwierig im sozialen Umgang, auch komisch - aber kein Pädophiler", sagte Bartels. Die Entwicklung des Mädchens habe sich in der Zeit, in der es bei V. wohnte, deutlich verbessert, das attestierten sowohl Kindergarten als auch Schule dem Jugendamt. Und das habe das Jugendamt auch selbst festgestellt, in der Akte wurde notiert, das Mädchen sei "angstfrei und ungezwungen" mit V. umgegangen. "V. zeigte sich kooperativ, wenn es draufankam", so Bartels.
Nur einmal nicht: V. verweigerte im April 2018 die weitere Betreung durch den sozialpädogogischen Dienst. Dieser Dienst war eines von mehreren Subunternehmen, die die regelmäßigen Hausbesuche bei den Pflegefamilien im Auftrag des Jugendamtes durchführen. Er wies in seinem Abschlussbericht auf "chronische Kindeswohlgefährdung" hin, doch statt dem nachzugehen, setzte die Behörde einfach ein anderes Subunternehmen ein - das die regelmäßigen Besuche auf dem Campingplatz mit einer Unterbrechung von vier Monaten im August 2018 fortführte.
Vier Hinweise in einem halben Jahr und keiner im Jugendamt wird stutzig? Es gebe "viel Hysterie, viel Denunziantentum", so Bartels, das Jugendamt erhalte hunderte Hinweise. Dennoch: "Die Gesamtschau der Hinweise in diesem Fall betrachten wir als Fehler", sagte Bartels.
Allerdings seien die Hinweise "verfolgt worden - wenn auch isoliert." Fast eine Stunde lang zählte der Landrat dann detailliert Telefonate, Hilfeplan-Gespräche, Entscheidungskonferenzen, unangekündigte Hausbesuche auf dem Campingplatz und sonstige Maßnahmen des Jugendamtes Hameln-Pyrmont auf. Zurück bleibt dennoch die Erkenntnis: Wie konnte eine Behörde, deren oberstes Ziel es ist, Kinder zu schützen, derart versagen? "Wir entschuldigen uns ausdrücklich bei denen, die Leid erlitten haben, unserem Wächteramt nicht in der gebotenen Form nachgekommen zu sein", sagte Bartels.