Tornados in den USA:Als wäre alles aus Papier

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Apocalypse Now: In Mayfield, Kentucky, haben Tornados ein Bild der Verwüstung angerichtet. (Foto: Brendan Smialowski/AFP)

Das Städtchen Mayfield in Kentucky haben die Tornados besonders stark zerstört, 74 Todesfälle sind bestätigt. Eine Kerzenfabrik ist zum Symbolbild der Katastrophe geworden - das Schicksal vieler Arbeiter ist noch immer ungewiss.

Von Kerstin Lottritz

Es ist etwas mehr als zwei Wochen her, da feierten sie in der Kerzenfabrik noch zusammen Thanksgiving. Das vorweihnachtliche Buffet bauten die Mitarbeiter in der Werkskantine auf, für Fotos gruppierten sie sich lächelnd um den Tisch. Wie aus einer anderen Welt wirkt das Bild jetzt, eine andere Welt oder eine andere Zeit. Denn von der Kerzenfabrik Mayfield Consumer Products in der 10 000 Einwohner zählenden Stadt Mayfield im US-Bundesstaat Kentucky ist zwei Wochen später nicht viel mehr übrig als ein Haufen Schutt und Stahl. Mindestens acht Menschen sind ums Leben gekommen, noch immer wird nach Vermissten gesucht.

36 Tornados fegten in der Nacht zum Samstag durch die sechs US-Bundesstaaten Illinois, Kentucky, Tennessee, Missouri, Arkansas und Mississippi, ein gigantischer Schwarm tödlicher Naturgewalten. Innerhalb kurzer Zeit knickten sie Bäume um, rissen sie Häuser ein, Holzbauten, Steinbauten, Stahl. Wirbelten sie Autos durch die Luft, als wären diese aus Papier.

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Kentuckys Gouverneur Andy Beshear sagte am Montagnachmittag, es seien 74 Tote geborgen worden. Die Zahl könnte aber noch steigen, denn auch noch drei Tage nach der Katastrophe ist unklar, wie viele Menschen verletzt sind oder noch vermisst werden. Das Ausmaß der Verwüstung mache es schwierig, konkrete Zahlen zu nennen, sagte Beshear. Erst hatte er mit 80 Toten gerechnet, zwischendurch gar mit mehr als 100. "Wir hoffen immer noch auf ein Wunder, dass wir mehr Menschen finden und die Zahl der Todesfälle hoffentlich geringer ist als erwartet", hatte er dann am Sonntag bei einem Besuch in Mayfield gesagt.

Dort ist die Kerzenfabrik zum Symbolbild der Katastrophe geworden. So wie in der gesamten Kleinstadt Mayfield kaum noch eine Hausfassade steht, ist von der Fabrik fast nichts mehr zu erkennen. Die Maschinen sind zerstört, Kabel hängen aus dem bis zu viereinhalb Meter hohen Schutthaufen heraus, oben liegen die Autos vom Parkplatz. Beshear vermutet, dass hier die meisten Menschen ums Leben gekommen sind. "Es könnte der größte Verlust an Menschenleben bei einem Tornado-Ereignis an einem einzigen Ort in der Geschichte des Staates sein", sagte er.

Von der Kerzenfabrik in Mayfield ist nur noch ein Schutthaufen übrig. (Foto: John Amis/AFP)

Zuletzt hatten die Arbeiterinnen und Arbeiter bei Mayfield Consumer Products rund um die Uhr gearbeitet. Kerzen, Wachs und Raumdüfte stellen sie hier her, das Unternehmen wurde 1998 gegründet und ist seitdem in Familienbesitz. In guten Zeiten waren hier mehr als 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt, schreibt der Lexington Herald-Leader, eine Lokalzeitung aus Kentucky. Die Wochen vor Weihnachten herrsche Hochbetrieb in der Fabrik, danach leerten sich die Auftragsbücher meist so stark, dass die Belegschaft reduziert wurde, in vergangenen Jahren bisweilen schon mal um mehr als 40 Prozent. Vor zwei Jahren stellte die Behörde für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz zwölf Verstöße gegen die Sicherheitsauflagen fest. Dabei ging es unter anderem um Schutzausrüstung und Schutzkleidung, aber auch um die Kennzeichnung von Fluchtwegen.

Auf seiner Facebook- und Internetseite hatte das Unternehmen kürzlich Jobs in der Fabrik ausgeschrieben. Arbeit für acht Dollar pro Stunde, in Zehn- bis Zwölf-Stunden-Schichten. Jetzt ist die Facebook-Seite gesperrt, die Bilder von der Thanksgiving-Feier sind nicht mehr zu sehen. Auf der Homepage des Unternehmens steht nur noch ein Statement von Troy Propes, dem Geschäftsführer der Kerzenfabrik. "Wir sind untröstlich, und unsere sofortigen Bemühungen bestehen darin, jenen zu helfen, die von dieser schrecklichen Katastrophe betroffen sind." Man richte einen Notfallfonds ein, um die Mitarbeiter und deren Familien zu unterstützen.

Auch Häftlinge arbeiteten in der Fabrik

Seit diesem Jahr beschäftigte die Kerzenfabrik auch Gefängnisinsassen, als Teil eines Arbeitsprogramms für Häftlinge. Am Freitagabend sollen sieben Insassen im Einsatz gewesen sein, sie überlebten das Unglück, einer von ihnen flüchtete. Unter den Toten ist auch ein Gefängniswärter, der in der Fabrik auf die Häftlinge aufpassen sollte, bestätigte ein Sprecher des Graves County Jail.

Fast wie ein Gemälde von Jackson Pollock: die Kerzenfabrik nach dem Tornado aus der Vogelperspektive. (Foto: Adrees Latif/Reuters)

Unklar ist noch immer, wie viele Menschen am späten Freitagabend in der Fabrik gearbeitet haben. Gouverneur Beshear geht weiterhin davon aus, dass es um die 110 gewesen sein müssen, genauso viele wie am Vortag. "Das Unternehmen sagt derzeit, dass es andere Informationen hat, aber bis wir das überprüfen können, sind wir immer noch auf dem Stand von gestern."

Laut Beshear sind allein in Kentucky Tausende Menschen obdachlos geworden. Notunterkünfte wurden eingerichtet, in Mayfield beispielsweise in der High School. Nachts liegen die Temperaturen hier im Dezember um den Gefrierpunkt. Rund 300 Mitglieder der Nationalgarde seien im Einsatz, so Beshear. Sie gingen "von Tür zu Tür", um Überlebende zu finden.

Es sind die wenigen guten Nachrichten, an denen die Menschen hier versuchen sich aufzurichten. Aus der Kerzenfabrik in Mayfield konnten immerhin 40 Arbeiterinnen und Arbeiter gerettet werden. Am Samstagmorgen um 3.30 Uhr (Ortszeit) hatten Rettungskräfte die bislang letzte lebende Person aus den Trümmern gezogen. Einige von ihnen lagen anderthalb Meter unter den Trümmern begraben. "Manchmal mussten wir über Verletzte kriechen, um weitere Opfer zu erreichen", sagte Jeremy Creason, der Feuerwehrchef von Mayfield.

Auch in anderen Bundesstaaten sind durch die Tornados mehrere Menschen ums Leben gekommen, konkrete Zahlen gibt es aber auch dort noch nicht, der Ausfall von Handynetzen erschwert zudem die Suche nach Vermissten. US-Präsident Joe Biden will das Katastrophengebiet in Kentucky bald besuchen, ließ Gouverneur Beshear noch wissen, aber erst, "sobald er die Rettungsoperationen nicht mehr behindert".

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