SZ-Kolumne "Bester Dinge":Vom Leben gezeichnet

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Die Dover-Zeichnung von John Constable lag jahrelang in einem alten Koffer. (Foto: David Duggleby auctioneers)

In einem alten Koffer taucht bei einer Entrümpelung in Yorkshire eine verlorene Bleistiftskizze von John Constable auf - dabei wäre sie einst beinahe auf Welttournee gegangen.

Von Alexander Menden

Wenn man davon spricht, dass Kunstwerke "verloren gegangen" seien, kann das allerlei bedeuten: Viele sind im Laufe der Jahrhunderte schlicht verbrannt oder vermodert, kaputtgeschlagen oder eingeschmolzen worden. Manche wurden geklaut. Und manche wurden einfach vergessen. Das führt bisweilen zu erstaunlichen Entdeckungen. Wie der des Caravaggio-Gemäldes, das vor ein paar Jahren auf einem Dachboden in Toulouse wiedergefunden wurde. Oder des Rembrandts, der jahrelang in einem Keller in New Jersey herumlag. Oder jenes Damenporträts von Gustav Klimt, das im Hohlraum in einer Wand desselben Museums in Piacenza entdeckt wurde, aus dem es mehr als 20 Jahre zuvor gestohlen worden war.

Nicht ganz so spektakulär, aber dennoch erstaunlich, ist der Fund, der jüngst bei der Entrümpelung einer Wohnung in Yorkshire gemacht wurde: In einem alten Koffer lag in einem zerbrochenen Rahmen eine Bleistiftskizze des englischen Malers John Constable. Die Ansicht der Hafenstadt Dover vom Meer aus war ursprünglich Teil eines Konvoluts von Zeichnungen, die Constable 1803 bei einer kleinen Schiffsreise entlang der englischen Südostküste anfertigte. Anscheinend hatte der mittlerweile gestorbene Besitzer sie für kleines Geld Anfang der 1970er-Jahre in einer Londoner Galerie erworben und dann im besagten Koffer vergessen. Immerhin gut 3000 Euro soll die Skizze nun bei einer Versteigerung bringen.

Dass die Skizze überhaupt in England blieb, ist übrigens das größte Wunder, denn beinahe wäre sie direkt nach ihrer Entstehung auf große Fahrt gegangen. John Constable musste das Schiff nach seiner Tour etwas überstürzt verlassen, als der Kapitän die Anweisung bekam, Kurs auf China zu nehmen. Das Paket mit den Zeichnungen ließ er liegen. Allerdings fand es ein Crewmitglied und trug es dem Maler hinterher. Sonst wäre es jetzt, wer weiß, vielleicht in einem Koffer in Shanghai gefunden worden.

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