Am Anfang fand der Gastwirt Hajime Otsuki seinen neuen Arbeitsplatz ein bisschen unheimlich. So lange ist es schließlich noch gar nicht her, dass der 27-Jährige zur Schule ging und dabei der japanischen Gruselkultur ausgesetzt war. "Als Kind habe ich die Geschichten von Geistern in der Schule gehört", die Gakkou no Kaidan also, die Kinder und Jugendliche im Inselstaat gerne erzählen, um sich gegenseitig etwas Angst zu machen. Daran musste Otsuki denken, als sein Job für die Barbecue-Gaststätte Ikuno BBQ Skypark begann. Denn die ist in einer stillgelegten Grundschule im Bezirk Ikuno der Großstadt Osaka untergebracht. Genauer gesagt: auf dem Dach der Schule. Noch genauer gesagt: im Schwimmbecken auf dem Dach der Schule.
Japan ist die älteste Gesellschaft der Welt. Nach Daten der Regierung in Tokio sind knapp 30 Prozent der 125 Millionen Menschen im Inselstaat 65 Jahre und älter. Der Anteil der Älteren wächst, es gibt immer weniger junge Leute. Die Folge: Schulen müssen schließen. Zurück bleiben kantige Gebäude, die Behörden und Investoren nicht kampflos dem Verfall überlassen wollen.
Also machen sie was draus. Das Recycling von Schulgebäuden greift um sich. Sie werden renoviert und wiederverwendet als Hotels, Wellness-Anlagen, Museen oder Restaurants. Vor allem in Japans Hinterland, das stark von der Überalterung betroffen ist. "In geschlossenen Schulen zu übernachten, macht einfach Spaß!", betitelt das Reise-Portal travel.jp einen Beitrag mit Beispielen aus Gunma, Akita und anderen Präfekturen. Die Küstenstadt Muroto in Kochi wirbt mit ihrem "Schulhaus-Aquarium"; wo einst Grundschülerinnen und Grundschüler paukten, kann man heute Hammerhaie, Seegurken oder Wasserschildkröten betrachten. Und in der Gemeinde Mihama, Präfektur Fukui, Standort eines Atomkraftwerks, nutzt man eine geschlossene Schule als öffentliches "Energie-Umwelt-Lernzentrum".
Nur noch elf Erstklässler
Der Ikuno BBQ Skypark ist eine neue Spielform des Trends. Allerdings fällt er etwas aus der Reihe, denn Osakas Bezirk Ikuno liegt nicht im entlegenen Grünen, sondern ist ein städtisches Dickicht aus alten Häusern und engen Straßen. "Es gibt schon viele Menschen hier", sagt Hajime Otsuki, "aber nicht viele Kinder." Ikuno ist nicht gut ans öffentliche Verkehrsnetz angebunden und verbreitet an vielen Ecken den bröckeligen Charme der Nachkriegszeit. Außerdem leben traditionell viele Ausländer hier, vor allem Koreaner. Junge japanische Familien zieht es eher in aufgeräumtere Teile Osakas mit modernen Wohntürmen oder Einfamilienhäusern.
Der Grundschule Miyuki Mori gingen jedenfalls die Kinder aus. Laut dem Schulinformationsdienst Gaccom hatte sie 2020 in den sechs Jahrgangsstufen nur noch 76 Schülerinnen und Schüler. In die erste Klasse gingen noch elf, in die vierte sogar nur neun Kinder. Im März 2021 machte die Schule zu. Das Stockwerk unter dem Ikuno BBQ Skypark erinnert an die Vergangenheit des Hauses: leere Klassenzimmer. Vergessene Bänke. Vor einer vollgekritzelten Tafel steht ein einsamer Bürostuhl. Das Licht der Dämmerung fällt durch vergilbte Vorhänge. Traurig.
Aber ein lokaler Stadtentwickler sah in der Leere eine Chance. Die Firma Retown ist spezialisiert darauf, urbane Orte auf nachhaltige Art wiederzubeleben. Die Ex-Schule in Osakas vernachlässigtem Winkel der Vielfalt sah sie als idealen Ort für ein multikulturelles Zentrum. Mittels Crowdfunding finanzierte Retown das Projekt - und seit Anfang Mai ist der Ikuno Co-Lives Park mit 22 Mietern nun also offen. In den Räumlichkeiten befinden sich unter anderem Sportschulen, Büros, Gasträume, ein Aufnahmestudio, eine Bibliothek - und auf dem Dach der Ikuno BBQ Skypark im Pool.
"In Ikuno war Barbecue immer schon populär", sagt Hajime Otsuki. Grillen ist typisch für die koreanische Küche, allerdings fehlte ein öffentlicher Ort dafür, denn in japanischen Parks darf man nicht grillen. Da lag es nahe, das Dach mit dem Schwimmbecken zu nutzen. Nur wie? "Erst dachten wir: Wasser rein", sagt Otsuki, aber dann hätte ja jemand reinfallen können. Außerdem hätte ein volles Becken Fläche für Gäste gekostet - und es einzuebnen ging nicht, weil die Stadt das als Vermieter hätte genehmigen müssen. Also blieb das Wasser draußen. Ungefähr hundert Leute können jetzt in eleganten Sitzgruppen auf dem Grund des Pools Platz nehmen und am Tischgrill Mitgebrachtes oder Vorbestelltes zubereiten.
25 Meter ist das Becken lang und nur 90 Zentimeter tief, weil hier ja früher Kinder schwimmen lernten. Man kann deshalb leicht über den Beckenrand in den Sonnenuntergang schauen. Verkleidet ist das Becken nicht mit Fliesen, wie man das von öffentlichen Schwimmbädern kennt, sondern mit hellblauen Eisenplatten, also einer billigeren Alternative. An der Vorderseite, wo früher mal zwei Startblöcke standen, ist ein Tresen montiert. Der Beckenrand ist mit kleinen Lichtern bestückt. Aber im Grunde ist das Becken noch so wie zu seinen gefluteten Zeiten. Auf Bahn drei sitzt ein Pärchen so nah an der Zielmauer, dass es jederzeit anschlagen könnte.
Die zwei älteren Herren auf Bahn fünf grillen mit Abstand dahinter. Und auf der anderen Seite steigt ein Gast über eine der Leitern ins Becken - dabei soll man dafür die eigens aufgebauten Holzstufen benutzen. Vermutlich die Macht der Gewohnheit. Wenigstens hechtet niemand von den Startblöcken.
"Der Zulauf ist noch nicht so groß", sagt Hajime Otsuki, aber der Sommer ist ja noch jung. Stimmungsvoll ist es jedenfalls im Pool über den Dächern Ikunos, wenn das rotgoldene Licht des Abends allmählich ins dunkle Blau der Nacht übergeht. Zumindest für Leute, die nicht an Schulgeister glauben.