Nahostkonflikt:"Wir sollten diesen Krieg nicht nach Deutschland bringen"

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Ein Bansky-Werk an der Mauer, die Israel vom palästinensischen Gebiet trennt. Einer der Teilnehmer an der Gesprächsrunde in Stuttgart sagt: "Wenn du kein Teil der Lösung sein kannst, sei wenigstens kein Teil der Eskalation." (Foto: IMAGO/Jakub Porzycki/IMAGO/NurPhoto)

Wenn derzeit über Israel und Palästina gesprochen wird, kommt es schnell zu Konflikten. Besuch bei jungen jüdischen und muslimischen Menschen, die Dialog suchen - und sich verstecken müssen.

Von Simon Sales Prado, Stuttgart

Es ist längst dunkel geworden in Stuttgart, als es in einem der Räume auf einmal still wird. Auf den Tischen stehen Börek und Çiğ Köfte, man hört im großen Zimmer den Çay köcheln. Schon den ganzen Abend wurde so vertraut miteinander gesprochen, als wäre dieser Austausch das Normalste auf der Welt, zu dieser Zeit, unter diesen Bedingungen. Aber jetzt, in einem der kleinen Räume, holt die Realität die Anwesenden ein.

Gerade wurde vorgeschlagen, ein nächstes Treffen in einem Café zu veranstalten, damit Interessierte einfach so dazustoßen können. Es fallen schon erste mögliche Lokale, da unterbricht eine Teilnehmerin das Gespräch. Sie zögert.

Geht das denn, so öffentlich? Können sie so sichtbar sein?

Die dreißig Menschen, die an diesem Abend in Stuttgart sitzen, waren noch lange nicht geboren, als der Nahostkonflikt mit der israelischen Staatsgründung eskalierte. Viele von ihnen sind jüdisch oder muslimisch, in ihren Zwanzigern, manche sogar jünger. Sie sind gekommen, um über das zu sprechen, was gerade in Israel und Palästina passiert. Und darüber, wie sich das auf sie auswirkt, auf ihre Familien und ihr Umfeld hier in Deutschland.

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Wo genau dieses Treffen stattfindet, soll nicht öffentlich werden. Was man sagen darf: Es gibt ein Sicherheitskonzept, die Fluchtwege sind frei, beim letzten Mal hat man sogar die Polizei informiert. Zu groß ist die Angst vor Übergriffen. Wenn man derzeit Hass verbreiten möchte, sagt eine der Anwesenden, kann man einfach auf die Straße gehen und Raum einnehmen. Wer aber Dialog will, muss sich verstecken.

"In der deutschen Gesellschaft wird viel über den Kampf gegen Antisemitismus gesprochen, geschützt fühle ich mich trotzdem nicht", sagt Anat Ivgi. Sie gehört mit Ahmad Al Saadi und Veronica Sartore zum Team von "Schalom und Salam", einem unter anderem vom Bundesfamilienministerium geförderten Bildungsprojekt für junge jüdische und muslimische Menschen, das zum Austausch eingeladen hat.

"Die deutsche Öffentlichkeit verlangt, dass wir uns positionieren."

Anat Ivgi ist eine fröhliche, zugewandte Person. Selbst in den Pausen, wenn es laut ist im Raum, hört man sie lachen, und jedes Mal, wenn jemand an diesem Abend etwas erzählt, bedankt sie sich. Ivgi trägt einen Pony, die Haare zurückgebunden. Was sie längst nicht mehr trägt: ihren Davidstern.

Geboren und aufgewachsen ist Ivgi in Jerusalem, ihr Vater stammt aus Marokko, ihre Mutter aus Iran. Sie ist jüdische Israelin. Als sie vor zehn Jahren in Stuttgart ankam, sprach sie noch kein Deutsch. Sie besuchte einen Sprachkurs, und wie die deutsche Grammatik musste sie mit der Zeit auch lernen, wie die Deutschen über den Nahostkonflikt sprechen. Über das Judentum, über den Islam, über Israel und die palästinensischen Gebiete.

"Ich kannte das Leben als Jüdin in einer Gesellschaft, in der jüdische Menschen die Mehrheit sind, ihre Kultur ausleben und unbeschwerter über den Konflikt sprechen können. Das ist hier eine ganz andere Geschichte. Die deutsche Öffentlichkeit hat Erwartungen an jüdische und muslimische Menschen, sie verlangt, dass wir uns positionieren. Palästina oder Israel, Gut oder Böse, Schwarz oder Weiß."

Womit man schon bei der ersten Frage wäre, die sich an diesem Abend stellt: Wie kann man jetzt, vor diesem Hintergrund, konstruktiv über den Nahostkonflikt sprechen? Und was macht das mit einem, wenn man nicht von außen auf den Konflikt blickt, sondern sich eine Sprache, eine Herkunft, eine Kultur mit israelischen und palästinensischen Menschen teilt?

Gleich zu Beginn des Abends einigen sich alle auf Regeln. Erstens: Ziel des Treffens ist, sich über Gefühle zur Lage in Nahost auszutauschen. Ziel ist nicht, den Konflikt zu lösen. Zweitens: Gewalt gegenüber palästinensischen oder israelischen Menschen wird nicht relativiert, beiden steht ein Leben in Sicherheit zu. Drittens: Palästinenser und Palästinenserinnen werden nicht mit der Hamas gleichgesetzt, auch zwischen jüdischen Menschen, Israelis und der israelischen Regierung wird unterschieden. Viertens: Antisemitismus und Rassismus werden nicht toleriert. Fünftens: Alle hören einander zu, alle lassen ihr Gegenüber ausreden.

"Wir hören einander nicht zu und sprechen uns unsere Gefühle ab."

Schalom und Salam existiert schon seit Jahren, das hier ist das zweite Treffen dieser Art seit Beginn der aktuellen Eskalation. Beim ersten Mal, nur Wochen nach Kriegsbeginn, sei der Austausch sehr emotional gewesen, erzählt Ivgi. Wut, Schmerz, Verzweiflung seien hochgekommen. Bei der Vorstellungsrunde an diesem Abend geht es deswegen zunächst vor allem um eine Frage: Wie geht es den Anwesenden jetzt, zwei Monate nach Beginn des Krieges?

Maida Ganevic: "Beim ersten Treffen war ich noch sehr wütend. Gerade habe ich eher das Gefühl, dass ich nur funktioniere."

Furkan Yüksel: "Es passiert immer noch so viel Schmerzhaftes, aber ich glaube, dass sich die Wogen zumindest so geglättet haben, dass wir besser gemeinsam über die Zukunft nachdenken können."

Veronica Sartore: "Mich macht die Debatte wütend. Wir hören einander nicht zu und sprechen uns unsere Gefühle ab. Und ständig sind wir nur am Reagieren. Jemand sagt was, dann kommen Stellungnahmen wie am Fließband, und es wird erwartet, dass man sich positioniert. Wir kommen gar nicht dazu nachzudenken."

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober steht das jüdisch-muslimische Verhältnis auch in Deutschland vor einer Belastungsprobe. Unter den Menschen, die hier miteinander sprechen, gibt es verschiedene Ansichten zum Konflikt in Nahost. Aber selbst während sie über die Lage in Israel und Gaza reden, über Antisemitismus unter muslimischen und Rassismus unter jüdischen Menschen, gelingt ihnen völlig selbstverständlich, was in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft derzeit nicht möglich erscheint: Gespräche werden nie hitzig, im Gegenteil.

Stattdessen tauchen Zweifel, Fragen, Unsicherheiten auf, einige Anwesende sagen wenig und hören vor allem zu. Und so schwer das Thema wiegt, immer wieder wird an diesem Abend gelacht: über Deutsche, über Missverständnisse zwischen Juden und Muslimen. Serpil Tirhis-Efe, eine der Anwesenden, schlägt vor, ein koscheres Fastenbrechen zu veranstalten. Oder ein jüdisch-muslimisches Plätzchenbacken: mit ausgestochenen Halbmonden und Davidsternen.

"Du bist der erste Jude, den ich sehe."

Serpil Tirhis-Efe: "Wir brauchen viel mehr Orte der Begegnung wie diesen. Letztens waren Kiril und ich an einer Schule, um über den Konflikt zu sprechen, da sagte ein Jugendlicher zu ihm: Du bist der erste Jude, den ich sehe."

Kiril Denisov: "Ich bin mit meiner Familie vor über zwanzig Jahren als jüdischer Kontingentflüchtling aus Lettland gekommen und muss sagen: Ich spüre seit Oktober eine Dunkelheit, die ich so noch nie gefühlt habe."

Ahmad Al Saadi: "Ich bin palästinensischer Flüchtling, aber mir geht es wie Kiril. Ich war lange wie gelähmt."

Ahmad Al Saadi ist in Jarmuk aufgewachsen, einem ehemaligen Lager für Flüchtlinge am Stadtrand von Damaskus. Mehr als eine halbe Million Menschen sind in den Fünfzigerjahren aus Palästina in diesen Teil der syrischen Hauptstadt gekommen. Sie haben ihre Heimat nach der israelischen Staatsgründung und dem daraufhin ausgelösten Krieg verlassen.

Al Saadi ist groß, sein Händedruck fest, er begrüßt jeden an diesem Abend persönlich. Als er vor mehr als zehn Jahren vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland floh, arbeitete er zunächst in der Flüchtlingshilfe, seit zwei Jahren ist er bei Schalom und Salam. Bei seinem Vorstellungsgespräch fragte er: Ob man sich sicher sei, dass man einen arabischen, muslimischen Palästinenser wie ihn in einem aus Bundesmitteln geförderten Projekt haben wolle? Man wollte ihn.

Ein paar Tage nach dem Abend in Stuttgart, im Gespräch mit Anat Ivgi und Veronica Sartore, erklärt Al Saadi den Hintergrund seiner Frage. Er spricht langsam, bedacht, zwischen den Sätzen pausiert er: "Das deutsche Erbe ist nicht mein Erbe, die deutsche Schuld ist nicht meine Schuld. Ich schaue nicht als Deutscher auf diesen Konflikt, sondern als palästinensischer Flüchtling, deswegen sehe ich manche Dinge anders als viele in Deutschland. Ich verstehe zum Beispiel nicht, wieso hier oft gesagt wird, man stehe bedingungslos hinter Israel. Ich wünsche mir ein sicheres Leben für alle, aber wie soll jemals Frieden in diesem Konflikt möglich sein, wenn ich eine Seite bedingungslos unterstütze, egal, was sie macht, egal, was sie tut?"

Al Saadi beschreibt die ersten Wochen der aktuellen Eskalation als unerträglich. Wegen der Situation in Gaza, aber auch wegen der Art, wie in Deutschland über Palästinenser gesprochen und auf muslimische Menschen geblickt wurde. Er spricht von gleichzeitigem Generalverdacht und Positionierungsdruck: Man erwartet, dass muslimische Menschen sich von der Hamas distanzieren, gleichzeitig unterstellt man ihnen so oder so Antisemitismus.

"Wenn du kein Teil der Lösung sein kannst, sei wenigstens kein Teil der Eskalation."

Ahmad Al Saadi: "Wir sind ein Teil der Gesellschaft, arbeiten, sind für andere da, machen jahrelang Bildungsarbeit mit jüdischen und muslimischen Menschen, dann eskaliert der Konflikt, und von einem Tag auf den anderen gehören wir nicht mehr dazu. Das hat mir wehgetan."

Veronica Sartore: "Man öffnet mit diesen pauschalen Urteilen und der einseitigen Solidarität gefährliche Hierarchien. Wie kann man jüdischen Menschen versichern, dass man sich um sie kümmern wird, und muslimischen und palästinensischen nicht?"

Ahmad Al Saadi: "Wir sollten den Krieg nicht nach Deutschland bringen. Das ist kontraproduktiv für den Konflikt dort, aber auch für unsere Gesellschaft hier."

Anat Ivgi: "Wenn ich den jüdischen und muslimischen Menschen eine Sache sagen könnte, dann: Du musst nicht handeln, du musst nichts sagen und keine Stellung beziehen. Nimm dir deine Zeit."

Ahmad Al Saadi: "Und von Deutschen erwarte ich Reflexion. Wenn du kein Teil der Lösung sein kannst, sei wenigstens kein Teil der Eskalation."

Es ist spät geworden in Stuttgart, der Teekessel ist schon abgebaut, die letzten Börek-Stücke werden verteilt. Kiril Denisov und Furkan Yüksel, beste Freunde, der eine jüdisch, der andere muslimisch, sind noch immer ins Gespräch vertieft. Sie möchten wiederkommen, wenn es die nächste Gesprächsrunde gibt. An einem öffentlichen Ort wird auch diese nicht stattfinden.

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