Der Schrecken breitet sich aus in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten. Von Straßenzug zu Straßenzug ziehen sich Spinnennetze durch die Vorgärten von Washington, aus den Rasenflächen recken knöcherne Arme tote Hände in die Höhe, beobachtet von leeren Augenhöhlen von Totenschädeln.
Was klingt wie ein Bild aus der neusten Folge der beliebten US-Serie "Stranger Things" ist eine Tradition. Jährlich in den Wochen vor Halloween frönen Amerikaner ihrem Herbsthobby Nummer 1 - neben dem Schlürfen von gewürzten Kürbis-Lattes: Haus und Garten mit Spinnen, Monstern, Grabsteinen und allerlei Kürbissen zu verzieren, von Kunststoff bis elektrisch aufblasbar. Seit diesem Jahr weist eine App den Weg zu den Straßenzügen mit den meisten dekorierten Häusern.
Manche Medien blasen trotzdem Trübsal: Um sage und schreibe 13 Prozent sei der Preis für Süßigkeiten gestiegen, schrieb National Public Radio (NPR) jüngst mit Verweis auf die offiziellen Teuerungsstatistiken. Eine Schreckensnachricht kurz vor dem Vorabend von Allerheiligen, an dem Horden von Kindern verkleidet durch die Straßen ziehen und an den Türen um Süßigkeiten betteln mit der Aufforderung "Trick or Treat", "Süßes oder Saures". Die Regale in den Supermärkten quellen über mit riesigen Säcken einzeln abgepackter Schokoladen- und Erdnussriegel; spätestens in zwei Wochen sind sie alle ausverkauft.
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Dabei würde es vielen US-amerikanischen Kindern zweifellos gut anstehen, weniger Süßes zu essen: Sie konsumieren im Durchschnitt doppelt so viel Zucker wie Gleichaltrige in Europa. Halloween ist in dieser Hinsicht ein Höhepunkt amerikanischer Exzesskultur. Amerikaner verschlingen in diesen Tagen eineinhalb Kilogramm Bonbons und Schokolade, Kinder nehmen an dem Ausnahmetag bis zu 7000 Kalorien zu sich, mehr als das Dreifache ihres Bedarfs - und zwar ausschließlich industriell produzierte Süßigkeiten. Selbstgebackenes ist an Halloween verpönt, weil die meisten Kinder ohnehin eine Tüte M&M's vorziehen. Aber auch aus Sicherheitsgründen sind einzeln verpackte Portionen zu servieren - schon lange vor Covid.
In den verzierten Straßen von Washington ist von einer Krise in diesem Jahr nichts zu spüren. Die aufblasbaren Hexen, Drachen und Kürbisse scheinen zahlreicher geworden zu sein und noch ein Stockwerk höher zu ragen. Vielleicht haben die Amerikaner ja auf Pump aufgerüstet, bevor im nächsten Jahr alles noch viel teurer wird: Ihre Kreditkartenschulden sind binnen Jahresfrist um 13 Prozent gestiegen, auf mehr als 5000 Dollar pro Person.
Gut möglich, dass in Zeiten horrender Inflation der eine oder andere Amerikaner deswegen lieber den trick wählt- also den Streich, als an die Kinder teure Süßigkeiten zu verteilen. Was dann droht, ist allerdings nicht absehbar. Von einem enttäuschten Kind bis zu einem Rudel aufgebrachter Teenager, die Mülleimer umstoßen und das Haus mit Toilettenpapier und Eiern bewerfen, ist mit allem zu rechnen. Klar ist einzig, dass der Zuckerschock einem keine Wahl lässt: US-Präsident Joe Biden und seine Partei können sich an den Zwischenwahlen vom 8. November nicht mit Süßigkeiten freikaufen - ihnen dürfte übel mitgespielt werden.