Dänemark:Die Narben unter der Schuluniform

Lesezeit: 4 min

Herlufsholm ist kein gewöhnliches Internat, hier schickt die Elite Dänemarks ihre Kinder hin. (Foto: Soeren Bidstrup/picture alliance / Scanpix Denma)

Berichte über systematische Gewalt und sexuellen Missbrauch an einem Elite-Internat erschüttern Dänemark. Auch der Sohn des Kronprinzenpaares geht dort zur Schule.

Von Kerstin Lottritz

In Herlufsholm, so ist es auf der Homepage des Elite-Internats im dänischen Næstved zu lesen, "steht der Mensch im Mittelpunkt, damit sich alle wohlfühlen". Es ist kein besonderer Satz, einer, der in der Selbstbeschreibung jeder beliebigen Schule auftauchen könnte, aber in Herlufsholm hat er einen fast höhnischen Klang bekommen seit vergangenem Donnerstag. Seit der dänische Fernsehsender in der Dokumentation " Herlufsholms hemmelighede " (Die Heimlichkeiten von Herlufsholm) über die Schule berichtet hat und das Internat wegen Fällen von körperlicher Gewalt, Mobbing und sexuellem Missbrauch massiv in der Kritik steht.

Mitten in der Nacht seien Ältere aus der dritten Oberstufenklasse, der Abschlussklasse, in den Schlafraum gekommen, erzählt in dem TV-Film etwa der 19-jährige Peter, bis vor einem Jahr noch Schüler in Herlufsholm. Sie rissen einen Jungen aus dem Bett und verprügelten ihn. Nur an den Oberarmen und Oberschenkeln, damit die Schuluniform die Verletzungen verdecken konnte. Mit etwa 50 ehemaligen Schülerinnen und Schüler haben die Autoren der Dokumentation gesprochen. Nur zwei von ihnen, Peter und sein gleichaltriger Freund Kristoffer, wollten vor der Kamera von ihren Erlebnissen sprechen. Die anderen fürchteten Repressalien. Viele Ehemalige bekleiden heute hochranginge Positionen, etwa in der Wirtschaft.

Herlufsholm ist nicht einfach ein Internat in Dänemark. Die mehr als 450 Jahre alte Schule gehört zu den ältesten Bildungseinrichtungen des Landes. Die Elite des Landes schickt hier ihren Nachwuchs hin. Seit einem Jahr besucht auch der Sohn des dänischen Kronprinzenpaares, der 16 Jahre alte Prinz Christian, das idyllisch gelegene Internat auf Sjælland (Seeland), das nur etwa 90 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Kopenhagen liegt. Jede Schülerin und jeder Schüler bewohnt dort ein eigenes Zimmer - geschlafen wird jedoch in einem Gemeinschaftsraum mit bis zu 14 Personen. Das schaffe Verbundenheit und eine gute Atmosphäre, heißt es auf der Internetseite.

Niemand informierte die Polizei

Was Peter, Kristoffer und andere Ehemalige in der Dokumentation berichten, lässt anderes erahnen. Demnach waren nicht nur nächtliche Schlägereien üblich und dies in einer Heftigkeit, "dass er nicht selbst in die Ecke kriechen konnte". Zu den gewalttätigen Übergriffen zählte auch sexueller Missbrauch. "Es hat mich verändert", sagt ein Ehemaliger, der in den 2010er-Jahren in Herlufsholm gelebt hat. Lange Zeit habe er sich nicht getraut, jemandem von jener Nacht zu erzählen, als er plötzlich aufwachte, weil einer seine Arme festhielt und ein anderer die Finger in seinen Po steckte. "Es ging viel um Scham, und dann ging es viel darum, dass ich nicht schlecht dastehen wollte." Irgendwann erzählte er doch seinen Eltern davon, die verständigten die Schulleitung und forderten, dass die Schüler, die ihren Sohn gequält hatten, der Schule verwiesen werden sollten. Doch wurden diese, so heißt es in der Dokumentation, lediglich mit milden Strafen gemaßregelt. Niemand informierte die Polizei.

Offenbar machte eine von strengen Hierarchien geprägte Kultur die Gewalt und das Mobbing überhaupt erst möglich. Die Schülerinnen und Schüler der Abschlussklasse tragen weiße Hosen und Röcke. Wer ihnen auf dem Schulgelände begegnet, weiß: Was die Älteren sagen, ist Gesetz. "Es gehörte zur Tradition, körperlich bestraft zu werden, wenn man sich nicht an die Regeln hielt", erzählt Peter in dem Film.

Im Jahr 2015 feierte Herlufsholm seinen 450. Geburtstag. (Foto: Soeren Bidstrup/picture alliance / Scanpix Denma)

Offenbar tun sich aber sowohl die Schulleitung als auch einige Eltern schwer damit, dieses System in Frage zu stellen. Man sehe keine ungesunde Kultur auf Herlufsholm, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung, die einige Eltern am Sonntag veröffentlichten. Der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, die die Schule aufgefordert hatte, Verantwortung zu übernehmen, warfen sie vor, Öl ins Feuer zu gießen. Ihre Kinder würden sich jetzt nicht mehr trauen, ihre Schuluniform außerhalb der Schule zu tragen. In einer langen Presseerklärung der Schule hieß es am Freitag lediglich, es handle sich um Einzelfälle, die meisten Schüler würden sich in Herlufsholm sehr wohl fühlen, die Abschlussnoten über dem Durchschnitt liegen. Die Vorwürfe sollten in einer Untersuchung aufgearbeitet werden, das war es dann aber schon mit dem Willen zur Aufklärung.

Mit offener Kritik reagierte dagegen das dänische Thronfolgerpaar. Als Eltern seien sie zutiefst erschüttert, schreiben Prinzessin Mary und Prinz Frederik auf Instagram, von systematischem Mobbing und einer Kultur der Kränkungen und Gewalt zu hören. Sie fordern, dass die Schule eine Kultur schaffe, in der sich alle sicher und als Teil der Gemeinschaft fühlten.

Prinz Christian, hier mit seinen Eltern Kronprinz Frederik von Dänemark und Kronprinzessin Mary, ist derzeit Schüler in Herlufsholm. (Foto: Keld Navntoft/dpa)

Eine solche Erklärung von Vertretern des Königshauses ist sehr ungewöhnlich, normalerweise hält sich die Familie mit Bewertungen zurück. Die Königsfamilie aber nimmt die Vorwürfe offenbar sehr ernst - mit Folgen. Denn erst nach dem Statement des Thronfolgerpaares wurde der Leiter des Internats, Mikkel Kjellberg, entlassen und ein Aktionsplan initiiert, der die Übergriffe künftig verhindern soll. Ab sofort schlafen die Jugendlichen nicht mehr im Gemeinschaftsraum, sondern in ihren eigenen Zimmern. Auch jenes Präfektensystem, das den Älteren erlaubte, die Jüngeren zu bestrafen, wurde abgeschafft.

Die Zeitung Politiken verglich die Ereignisse um das Internat daher unter anderem mit dem Fall Sofie Linde. Als die TV-Moderatorin vor etwa anderthalb Jahren öffentlich von einem sexuellen Übergriff berichtet hatte, hatten sich mehrere Frauen ein Beispiel an ihr genommen und ihre Erfahrungen öffentlich gemacht. Erstmals seit Beginn der weltweiten Metoo-Welle hatte es danach auch in Dänemark nicht nur ein bisschen Empörung, sondern auch Konsequenzen für die Täter gegeben: zahlreiche Männer traten von einflussreichen Positionen zurück, unter anderem auch Morten Østergaard, der Chef der Sozialliberalen.

Dass sich nun das Kronprinzenpaar so deutlich mit den Opfern solidarisiere, schrieb nun also Politiken, stelle die bestehenden Machtverhältnisse in Dänemark auf den Kopf. Nur so könnten die Ohnmächtigen mächtig und die Mächtigen ohnmächtig gemacht werden.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusCold Case
:Der Namenlose aus der Nordsee

War er ein schicker Geschäftsmann? Ein britischer Lord? 1994 wird westlich von Helgoland die Leiche eines unbekannten Mannes gefunden. Nun wird der Cold Case noch einmal aufgerollt - und Studierende der Polizeiakademie ermitteln mit.

Von Peter Burghardt

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: