Bisher ist es nur ein ungeheuerlicher Verdacht. Zwei junge Männer aus Afghanistan sollen ihre ältere Schwester in Berlin ermordet haben - "aus gekränktem Ehrgefühl", wie die Staatsanwaltschaft vermutet. Doch da in wenigen Wochen in der Hauptstadt gewählt wird, genügt schon der Anschein eines sogenannten Ehrenmordes, um nach Konsequenzen zu rufen.
Am Wochenende forderte CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner per Twitter eine "offene Debatte über gescheiterte Integration aufgrund archaischer Wertvorstellungen, die aus Herkunftsländern nach Deutschland mitgebracht werden". Bettina Jarasch, Bürgermeisterkandidatin der Grünen, meinte: "Wenn eine Frau ermordet wird, nur, weil sie selbstbestimmt und frei leben möchte, ist das ein abscheuliches Verbrechen. Wir müssen solche Morde mit aller Konsequenz des Rechtsstaats ahnden."
Am Freitag hatte die Berliner Staatsanwaltschaft bekannt gegeben, dass sie gegen zwei Brüder aus Afghanistan, 22 und 25 Jahre alt, ermittle. Deren Schwester, eine 34-jährige Mutter zweier Kinder, die am Berliner Stadtrand in Hellersdorf lebte, sei zunächst als vermisst gemeldet worden. Die Untersuchungen des Landeskriminalamts Berlin und der Staatsanwaltschaft führten jedoch nun zu einem fürchterlichen Verdacht. "Nach unseren Ermittlungserkenntnissen haben sie die junge Frau am 13. Juli getötet", erklärte Staatsanwalt Martin Steltner, und "dann mit einem Rollkoffer über einen Berliner Fernbahnhof nach Bayern transportiert."
Dort bei Donauwörth ist der ältere der beiden Brüder gemeldet. In einem Waldstück nahe Ehekirchen, etwa vierzig Autominuten entfernt, sollen die jungen Männer dann ihre Schwester vergraben haben. Videoaufzeichnungen aus dem Berliner Bahnhof, die Auswertung von Handyverbindungsdaten und Zeugenaussagen hatten die Ermittler auf die Spur zu den beiden Brüdern gebracht; mithilfe von Beamten in Bayern konnte schließlich auch die Leiche geborgen werden. Eine Obduktion am vergangenen Freitag erwies, dass die Frau ermordet worden war und dass es sich um die Gesuchte handelt. Ihre beiden Brüder waren bereits am vergangenen Mittwoch in Untersuchungshaft genommen worden.
Nach Aussagen der Staatsanwaltschaft leben die Geschwister bereits seit einigen Jahren in Deutschland und besitzen die afghanische Staatsangehörigkeit. "Dem Haftbefehl zufolge sollen die beiden Tatverdächtigen sich gekränkt gefühlt haben, weil das Leben ihrer geschiedenen Schwester nicht ihren Moralvorstellungen entsprochen habe", erklärte die Staatsanwaltschaft.
"Das sind ja Mutmaßungen", sagt Mirko Röder. "Da ist meistens auch viel Lyrik in solchen Erklärungen." Der Rechtsanwalt vertritt den jüngeren der beiden Brüder, der in Berlin in Untersuchungshaft sitzt. Er geht davon aus, dass sich der Fall zu einem "konfliktträchtigen und hochkomplexen Verfahren" entwickeln werde. Hochkomplex wegen der brisanten politischen Themen Integration und Ehrenmord, konfliktträchtig wegen des "robusten" Gerichtsverfahrens. Röder: "Wir rechnen da schon mit einer harten Gangart."
Zumindest erinnert der Fall an den Mord an Hatun Sürücü in Berlin. Die damals 23-Jährige wurde im Februar 2005 an einer Bushaltestelle von einem ihrer Brüder mit drei Kopfschüssen umgebracht. Die kurdischstämmige Frau war zwangsverheiratet worden, hatte sich jedoch aus ihrer Ehe befreit und war mit dem Sohn zurück nach Berlin gezogen. Ihr Tod führte zu einer bundesweiten Debatte über Integration.