Gerichtsurteil:Warum ein Mädchen aus Berlin nicht in den Knabenchor darf

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  • Das Berliner Verwaltungsgericht hat die Klage einer Anwältin abgewiesen, die ihre Tochter in den Berliner Staats- und Domchor einklagen wollte, einen Knabenchor.
  • Für das Gericht wiegt in dem Fall die Freiheit der Kunst schwerer als die Chancengleicheit der Geschlechter.
  • Der Chorleiter habe nachweisen können, so das Gericht, dass das Mädchen aus künstlerischen Gründen abgelehnt worden sei.

Von Verena Mayer, Berlin

Ein Mädchen will singen. Es liebt lateinische Kirchenmusik, singt mehrmals die Woche und macht Stimmbildung. Es war einige Zeit im Chor der Komischen Oper in Berlin, nach einem Umzug dann in Frankfurt an der Domsingschule. 2016 ging die Familie zurück nach Berlin und suchte wieder einen Chor für die Tochter. Die wusste auch schon genau, in welchen sie wollte: den Staats- und Domchor zu Berlin, eine der renommiertesten und ältesten musikalischen Einrichtungen Berlins, deren Ursprünge ins 15. Jahrhundert reichen. Das einzige Problem für das Mädchen: Der Berliner Staats- und Domchor ist ein Knabenchor.

Als die Mutter des Kindes an die Universität der Künste, die den Chor betreibt, schrieb, ob sie ihre Tochter anmelden könne, bekam sie vom Dekan der Musikfakultät eine klare Antwort: "Ihr Wunsch ist aussichtslos. Niemals kann ein Mädchen in einem Knabenchor mitsingen." So wie auch ein Klarinettist oder eine Klarinettistin nie in einem Streichquartett werde mitspielen können. Die Mutter des Mädchens, die auch Anwältin ist, wollte das nicht auf sich sitzen lassen. Sie beschloss, das Mädchen in den Chor einzuklagen.

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Am Freitag sitzt sie deswegen als Rechtsvertreterin ihrer Tochter vor dem Berliner Verwaltungsgericht. Eigentlich habe ihre Tochter, die dieser Tage zehn Jahre alt wird, auch mitkommen wollen, sagt Susann Bräcklein, "sie hat mich gebeten, für sie und andere Mädchen dieses Verfahren zu führen". Doch ihre Tochter sei so angefeindet worden, dass sie sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen wolle.

Tatsächlich gibt es seit Jahren eine erbitterte Debatte darüber, ob Mädchen auch in Knabenchören singen dürfen. Die Gegner argumentieren, dass Mädchenstimmen aufgrund ihrer Biologie anders klingen und sie daher nichts in einem Knabenchor zu suchen hätten. Oder dass die Chöre eine Tradition seien, an der man auf keinen Fall rütteln dürfe. Diejenigen, die dafür sind, halten Knabenchöre für einen Anachronismus, der auf den Apostel Paulus zurückgehe, der fand, dass Frauen in der Kirche schweigen sollten. Oder sie verweisen auf Untersuchungen, wonach die meisten Menschen die Stimmen von Mädchen und Jungen in einem bestimmten Alter gar nicht unterscheiden könnten.

Einige berühmte Chöre haben auf die Diskussion inzwischen reagiert. Die Wiener Sängerknaben haben ihre Ausbildung für Mädchen geöffnet und einen eigenen Mädchenchor eingerichtet. In England nehmen selbst traditionelle Kirchenchöre inzwischen auch Sängerinnen auf.

Dementsprechend voll ist der Plenarsaal des Verwaltungsgerichts, man sieht viel internationale Presse und auch etliche Jugendliche. Ansonsten geht es hier weniger um Emotionen als um eine ganz grundsätzliche Frage: Das Grundgesetz schreibt vor, dass man Menschen wegen ihres Geschlechts nicht benachteiligen darf. Tut man es dennoch, muss man einen zwingenden Grund dafür haben. Oder es gibt ein anderes Verfassungsgebot, das dagegen spricht, was in diesem Fall die Freiheit der Kunst wäre. Dann muss von Fall zu Fall abgewogen werden, welches Grundrecht wichtiger ist.

Um Kunst geht es dann auch über mehrere Stunden vor Gericht. Susann Bräcklein sagt, sie wolle ihrer Tochter die bestmögliche Chorausbildung bieten, und die gebe es in Berlin nun mal nur im Staats- und Domchor. Im März 2019 wurde sie schließlich zum Vorsingen vor einer Kommission eingeladen. Man bescheinigte dem Mädchen zwar ein "solides rhythmisches Vermögen" und eine ganz gute Stimme, die aber wegen ihres Kopfstimmenanteils eine zu geringe "Farbenvielfalt" habe. Das Mädchen wurde abgelehnt. Der Mädchenchor der Universität der Künste, dessen Leiterin ebenfalls beim Vorsingen war, lehnte das Kind ebenfalls ab. Wie er das Mädchen erlebt habe, will der Vorsitzende Richter vom Leiter des Chors, Kai-Uwe Jirka, wissen. "Als fröhliches, wunderbares Mädchen, das wie ein Mädchen gesungen hat." Er hätte auch einen Jungen mit dieser Stimme nicht genommen, weil die Stimme nicht in die Klangfarbe eines Knabenchors passe.

Was die denn ausmache, fragt der Richter. Jirka, der seit dreißig Jahren mit verschiedenen Chören arbeitet, holt zu einem langen Vortrag aus, in dem er immer wieder ein paar Töne anstimmt. Da seien einmal Klangraum und Klangfarbe einer Stimme, die beide durch den Körperbau eines Menschen beeinflusst würden. Und es sei "die Endlichkeit", die einen Knabenchor definiere, "im Konzertchor läuft eine biologische Uhr, das ist wie ein Schwanengesang, wenn es zu Ende geht, singt man die schönsten Töne." Ob es denn möglich ist, dass auch Mädchen für eine solche Stimme ausgebildet werden, fragt der Richter. Ja, sagt Jirka, "aber nur mit Gewalt". Das zu erreichen grenze an Praktiken, wie sie im Leistungssport üblich seien, und die halte er schon pädagogisch nicht für sinnvoll.

Berlin sei eine Stadt, "in der das biologische Geschlecht nicht den Ausschlag gibt", sagt der Leiter des Knabenchors

Dem hält die Mutter des Mädchens entgegen, dass vieles eine Frage von Ausbildung und Training sei. Das Repertoire mache den Unterschied, und wenn man Mädchen an die Musikstücke für Knabenchöre heranführe, dann könnten sich auch die Stimmen dementsprechend entwickeln. Die Kammer weist ihre Klage schließlich ab. Die Freiheit der Kunst wiege in dem Fall schwerer, heißt es in der Urteilsbegründung. Der Leiter des Knabenchors habe nachweisen können, dass es um einen bestimmten Klang gehe und er das Mädchen aus künstlerischen Gründen abgelehnt habe. Die Berufung lässt das Gericht aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung dieses Falles zu.

Für Susann Bräcklein war das Verfahren dennoch nicht umsonst. Für ihre Tochter sei es für eine Gesangsausbildung im Chor zwar inzwischen zu spät, sagt sie nach der Verhandlung, "aber vielleicht kommt bald ein anderes junges Mädchen und hat Erfolg. Das Neue braucht Mut."

Das sieht der Leiter des Knabenchors ganz ähnlich. Er habe das Mächen zwar wegen seiner Stimme abgelehnt, wenn aber "jemand kommt, und wir sagen, das passt zu unserer Klangfarbe, dann sind wir die Ersten, die die Tür weit aufmachen". Berlin sei eine Stadt, "in der das biologische Geschlecht nicht den Ausschlag gibt".

© SZ vom 17.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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