Wolfratshauser Innenstadt:Sommer mit Ruine

Lesezeit: 5 min

Der gerichtlich eingefrorene Abriss des Isar-Kaufhauses bringt die Wolfratshauser in Erklärungsnot. Sie müssen staunenden Gästen erzählen, warum es in der Altstadt wie nach einem Bombeneinschlag aussieht.

Von Konstantin Kaip

Es ist Sommer in Wolfratshausen, zahlreiche Touristen sind zwischen Loisach, Marktstraße und Bergwald unterwegs. Die mehr als 1000-jährige Altstadt ist ein beliebtes Ausflugsziel, mit vielen Orten zum Anhalten und Fotografieren. An einem von ihnen aber, mitten im Markt, bleiben derzeit alle Gäste ungläubig stehen: vor dem ehemaligen Isar-Kaufhaus, oder besser - vor dem, was davon noch übrig ist. Halb abgerissen steht der Komplex ohne Dach da, durch den Bauzaun blickt man über Schutthaufen in die offenen Gebäudereste. Ein verstörendes Bild, das von gespenstischer Ruhe verstärkt wird: Kein Bagger brummt, kein Bauarbeiter läuft herum. Als wäre eine Bombe mitten in der Postkartenidylle der Altstadt explodiert und das Gelände abgeriegelt worden.

Die Wolfratshauser müssen in diesem Sommer mit einer Ruine leben, die wie eine offene Wunde wirkt und sie in Erklärungsnot bringt. Bernhard Reisner, der Zweite Vorsitzende des Historischen Vereins, erzählt von Gästen aus dem Norden von München, mit denen er neulich durch die Stadt gegangen sei. "Das sieht ja aus wie im Krieg", hätten die gesagt, als sie am Untermarkt vorbeigingen. "Man muss sich fremdschämen dafür, dass das jetzt über Monate so bleiben wird", sagt Reisner. Das städtische Schild vor der Baustelle hat ein Unbekannter den Umständen angepasst: Im Slogan "Hier bewegt sich was" hat er das letzte Wort durchgestrichen und mit "nix" ersetzt.

Wer Gäste an der Ruine vorbeiführt, muss erklären, dass der Abriss für einen Neubau vom Landratsamt genehmigt wurde, die Behörde ihn dann aber gestoppt hat. Das Haus daneben wäre ansonsten einsturzgefährdet gewesen, die Investoren konnten sich mit den Eigentümern nicht über den statischen Schutz einigen. Inzwischen haben sie einen Plan B mit Stabilisierung von außen gefasst und könnten laut Projektleiter Frank Maiberger den Abriss vollenden und mit dem Bau beginnen. Allerdings hat das Verwaltungsgericht kürzlich die Baugenehmigung in einem von Anwohnern angestrengten Eilverfahren eingefroren. Die gesetzlich vorgeschriebenen Abstandsflächen würden nicht eingehalten, so die Richter. Und weil Abriss und Neubau in einer Genehmigung erfolgten, geht erst einmal gar nichts mehr.

Die Untermarkt 7-11 GmbH, die den Neubau errichtet, will die Sache nun vor den Verwaltungsgerichtshof (VGH) bringen. Die Abstandsflächen seien schließlich auch vom einstigen Kaufhaus überschritten worden, argumentieren die Bauherren. Mit einem Urteil dort aber ist frühestens im Herbst zu rechnen.

Das Foto aus den 50er Jahren aus der Fotosammlung des Fritz Bauereis im Stadtarchiv Wolfratshausen zeigt, wie die Häuser vor dem Umbau zum Kaufhaus aussahen. (Foto: Stadtarchiv Wolfratshausen)

Es wirkt fast so, als laste ein Fluch über dem einst vitalen Mittelpunkt der Innenstadt. Das Isar-Kaufhaus, 1966 eröffnet und jahrzehntelang verlässlicher Frequenzbringer im Markt, musste 2012 schließen. Der Onlinehandel hatte die Einnahmen wegschmelzen lassen, Betreiber Frederik Holthaus konnte sich die Miete nicht mehr leisten. Sechs Jahre stand der Bau leer. Die bleierne Tristesse im Markt machte auch den umliegenden Läden zu schaffen. Ein Versuch, das Haus 2014 mit einem Konzept für einen Umbau zur "Hugo-Passage" mit Geschäften, Praxen und Stadtwohnungen zu reanimieren, scheiterte am Desinteresse möglicher Investoren.

Anfang 2017 dann präsentierte der Rechtsanwalt Harald Mosler, der die Eigentümerin Angela Scheller vertrat und heute Geschäftsführer der Untermarkt 7-11 GmbH ist, den Grünwalder Investor Rainer Scherbaum als neuen Besitzer und stellte den geplanten Neubau mit Laden und 15 Mietwohnungen vor. Der Drogeriemarkt Müller will dort eine Filiale betreiben. Die "Schlüsselimmobilie" werde die Altstadt bald neu beleben, hieß es im Stadtrat. Es sollte aber bis Ende April dieses Jahres dauern, bis endlich die Bagger anrollten. Im Juni wurden sie wieder abgezogen.

Seitdem haben die Wolfratshauser Zeit, das Drama um ihr einstiges Kaufhaus zu interpretieren. Oft geht es um die Frage, wer der Schurke ist in diesem Stück. Der Investor, der den Abriss begonnen und Tatsachen geschaffen hat, obwohl drei Anwohner geklagt hatten? Die Nachbarn, deren Klagen den Neubau blockieren? Das Landratsamt, das ihn genehmigt hat? Oder das Verwaltungsgericht, das die Genehmigung anficht? Man sehnt sich nach dem nächsten Akt, in dem der VGH als Deus Ex Machina auf die Bühne schweben möge.

Den staunenden Touristen kann man unterdessen von früher erzählen, aus Shakespeares Zeiten sozusagen, als zumindest zwei der Gebäude standen, die später zum Kaufhaus werden sollten: Der Getreidestadel am Untermarkt 7, einst das Haus eines Lebkuchenbäckers, wurde um 1730 vom Kloster Benediktbeuern übernommen und ging Anfang des 19. Jahrhunderts in Staatsbesitz über. Dann hat die Marktgemeinde das Haus erworben und dort eine Wohnung, einen Getreidespeicher und ein Schlachthaus eingerichtet, später kam im Erdgeschoss noch eine Freibank dazu, in der bis 1939 Fleisch verkauft wurde. Der erste schriftliche Nachweis des Gebäudes findet sich im Steuer- und Grundbuch von 1633.

Das Isar-Kaufhaus, hier an seinem letzten Öffnungstag 2012, kam mit einheitlicher Fassade daher. Das "Seifensiederhaus" rechts wurde dem Komplex 1983 zugeschlagen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Darin ist auch das Nachbarhaus am Untermarkt 9 verzeichnet, in dem Anfang des 18. Jahrhunderts die Brauerei der Familie Guglhör errichtet wurde. 1875 hat die Marktgemeinde das Haus gekauft und abreißen lassen, um dort eine Knabenschule zu bauen. 1940 wurde eine neue Schule am Hammerschmiedweg errichtet. Das Haus am Untermarkt wurde zur Kommandantur der Landesschützen. Nach dem Krieg waren dort zeitweise eine Abteilung der US-Militärregierung, ein Textilgeschäft und eine Synagoge untergebracht.

Nicht ganz so alt war das "Seifensiederanwesen" am Untermarkt 11, das erst 1983 Bestandteil des Isar-Kaufhauses wurde. Es findet sich erst im Stadtplan von 1814. Das Haus war lange eine Wirtschaft, später Teil einer Bank und der Landwirtschaftsschule. Die Landesschützen nutzten das Erdgeschoss bis Kriegsende als Lazarett, im Rückgebäude entstand 1948 ein Café. All das kann man in der Broschüre zum Historienpfad nachlesen. Verfasst hat sie der Historische Verein, der sich lange für die Erhaltung des "Seifensiederhäuschens" eingesetzt hat. Das aber hat der Denkmalschutz wegen umfangreicher Veränderungen zum Abriss freigegeben.

Der Neubau soll sich jedoch am historischen Bestand orientieren. Fassaden, Profile und Fensterformen seien "in Absprache mit dem Denkmalamt entwickelt" worden, sagt der Architekt Tom Ferster. Die Gestaltung hat er auch mit den Vorsitzenden des Historischen Vereins, Sybille Krafft und Bernhard Reisner, besprochen. "Wir haben uns alte Pläne angeschaut", sagt Reisner. Das Ergebnis: Beim Umbau zum Kaufhaus in den Sechzigerjahren sei "die alte Bausubstanz eigentlich völlig vernichtet" worden. "Wir haben dann aus der Not eine Tugend gemacht und darauf gedrängt, dass die Urfassade in ihrer Dreiteilung wiederhergestellt wird." Der Neubau soll die schlichte Fassade des Getreidestadels, die renaissancehafte Front der Knabenschule und den barocken Giebel des Seifensiederhauses wieder aufgreifen. Das sei zwar eine "Kulissenfassade", räumt Reisner ein. So etwas gebe es aber auch woanders, etwa in Landshut.

Der Neubau an der Stelle soll nach Vorgeaben des denkmalschutzes und laut Plan von Architekt Tom Ferster die historische Fassade wieder aufgreifen. (Foto: HW)

Die Häuser, die zum Isar-Kaufhaus wurden, stammen aus einer Zeit, in der noch keiner von Abstandsflächen sprach. "Wie auf einer Perlschnur schmiegen sich die Anwesen am Ober- und Untermarkt in einem sanften Bogen aneinander", schreibt Krafft im Vorwort zum Historienpfad. Die enge Bebauung sei typisch für jede Altstadt, sagt Stadtarchivar Simon Kalleder. Sie sei vor allem dem Schutzbedürfnis geschuldet. Der Markt habe sich gegen Angriffe absichern müssen. "Und was dichter bebaut ist, kann man leichter verteidigen." In Wolfratshausen habe sicher auch der Platzmangel zwischen Loisach und Bergwald eine Rolle gespielt.

Die Auffassung des Gerichts, der Neubau müsse auf der Rückseite die im Baugesetz geltenden Abstandsflächen einhalten, hat Reisner dann auch befremdet. "Ich bin kein Jurist", sagt er. "Aber so wie die Fläche früher bebaut war, muss man schon viele geistige Purzelbäume schlagen, damit nach einem Abriss der einstige Bestand nicht mehr zum Tragen kommt." Architekt Ferster betont, dass die Nachbarn beim Isar-Kaufhaus auf eine acht Meter hohe Wand geschaut hätten - dort, wo nun eine drei Meter hohe Tiefgarageneinfahrt entstehen soll und darüber zwei zurückgestufte Obergeschosse.

Welche Regeln auf dem historisch verschachtelten Gebiet gelten, wird der VGH klären müssen. Dass die Stadt solange mit der Ruine leben muss, findet Reisner "erschütternd". Alle Akteure und Behörden müssten nun auf eine rasche Einigung hinarbeiten. "Wir wünschen uns, dass es bald vorangeht", sagt er für den Historischen Verein, aber wohl auch für alle Wolfratshauser und Touristen.

© SZ vom 27.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: