SZ-Adventskalender:Ein Zuhause für "Systemsprenger"

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Im einstigen Bauernhof an der Münsinger Straße sollen schwer traumatisierte Kinder eine Bleibe finden und so etwas wie Normalität erleben. (Foto: Hartmut Pöstges)

Im Wolfratshauser Thannhof errichtet die Diakonie München und Oberbayern zwei intensivpädagogische Kleinstwohngruppen für Kinder, die überall sonst durchs Raster fallen.

Von Konstantin Kaip, Wolfratshausen

Der sogenannte Thannhof ist nicht einfach zu finden, schließlich liegt der einstige Bauernhof ziemlich abgelegen an der Münsinger Straße am Waldrand, weit ab vom Zentrum der Stadt Wolfratshausen. Am Klingelschild mit Überwachungskamera ist noch der Name Danhuber zu lesen. Alex Danhuber starb am 1. Januar 2022, kurz vor seinem 93. Geburtstag. Seitdem steht der Hof leer. Allerdings nicht mehr lange: Die Diakonie München und Oberbayern will dort zwei intensivpädagogische Kleinstwohngruppen errichten, für insgesamt sieben Kinder im Alter zwischen vier und 13 Jahren.

Als die Stiftung, die Danhubers Namen trägt, ihnen das einstige Bauernhaus für einen "pädagogischen Zweck" angeboten habe, sei schnell klar gewesen, was dort entstehen solle, sagt Volker Hausdorf, Geschäftsbereichsleiter der Kinder- und Jugendhilfe bei der Diakonie München und Oberbayern. Sie betreibt im Sinzinger Hof im Landkreis Traunstein bereits seit 2020 erfolgreich eine intensivpädagogische Kleinstwohngruppe für Kinder - "praktisch eine Schwestereinrichtung", wie Hausdorf sagt. "Wir konnten einschätzen, dass das gut passen würde."

Die einsame Lage im Grünen sei für die Einrichtung ideal, weiß Ann-Katrin Lutschewitz, die bei der Diakonie für die Wohngruppen zuständig ist. "Die reizarme Umgebung hilft sehr, dass die Kids auch zur Ruhe kommen", sagt sie. "Und es gibt auch nicht zu viele Beschränkungen. Sie können auch mal im Garten ihre Wut und ihren Frust rauslassen, ohne dass sich gleich die Nachbarn beschweren."

Ann-Katrin Lutschewitz ist bei der Diakonie München und Oberbayern für die intensivpädagogischen Wohngruppen zuständig. (Foto: Privat/oh)

Denn die Kinder, die dort leben und so etwas wie ein Zuhause finden sollen, hatten es sehr schwer auf ihrem bisherigen Lebensweg. Es sind Kinder, die "in allen Bereichen auffällig sind", wie Lutschewitz erklärt: im sozialen wie im emotionalen Verhalten. Die Kinder seien meist zuvor vom Jugendamt "in Obhut genommen worden", weil die Eltern aus verschiedenen Gründen ihrem Bedarf nicht nachkommen könnten, und würden oft direkt von der Schutzstelle vermittelt. Sie seien nicht für Kitas geeignet und "nicht beschulbar", viele zeigten Aggressionen oder Autismusstörungen.

Der Wolfratshauser Bauausschuss hat kürzlich einem Antrag für die Nutzungsänderung einstimmig zugestimmt. Darin heißt es, die Kinder, die im Thannhof betreut werden sollen, seien "durch besonders krisenhafte Vorerfahrungen geprägt", dazu gehörten "Beziehungsabbrüche, Vernachlässigung, Vereinsamung, Gewalt und andere Verletzungen der psychischen und physischen Integrität". Sie seien praktisch durch alle pädagogischen Raster gefallen, sagt Hausdorf. Es handle sich um "Systemsprenger", wie besonders schwer erziehbare Kinder nach dem viel beachteten gleichnamigen Film von 2019 genannt werden. Eine intensivere Betreuungsform als die Kleinstwohngruppen gebe es in Deutschland kaum.

Die abgeschiedene Lage erlaubt es den Kindern, auch mal laut zu sein. (Foto: Hartmut Pöstges)

Im Thannhof sollen zwei Wohnungen entstehen, eine mit drei und eine mit vier Plätzen, im Ober- und im Erdgeschoss. Die Kinder haben jeweils ein eigenes Zimmer, dazu gibt es einen großzügigen Gemeinschaftsraum mit Küche sowie ein Bereitschaftszimmer fürs Personal und Räume für Therapie und Besprechungen, ein Zimmer für begleitete Kontakte zu Bezugspersonen und eine Werkstatt für Kunsttherapie und ähnliche Angebote. "Der Alltag läuft sehr durchstrukturiert ab", erklärt Lutschewitz. Zu den 15 Mitarbeitenden der Einrichtung gehört eine Hauswirtschaftskraft, die für die Reinigung zuständig ist und für beide Gruppen kocht. Es werde gemeinsam gefrühstückt, zu Mittag und zu Abend gegessen, "wie in einer Familie". Zwischendrin gebe es eine Lern- und für die Kleineren eine Vorlesezeit, nachmittags verschiedene Freizeitangebote und manchmal gemeinsame Aktivitäten und eine tägliche abendliche Reflexionsrunde.

Für die schulpflichtigen Kinder soll es auch eine eigene Lehrkraft geben, unter der Trägerschaft der Alfons-Brandl-Schule, die in der Herzogsägmühle angesiedelt ist. Sie unterrichtet die Kinder im Haus, nach und nach sollen sie dann begleitet passende Einrichtungen im Umfeld besuchen, etwa das Förderzentrum in Geretsried. Einen öffentlichen Schulbesuch müsse man allerdings "langsam anbahnen", sagt Lutschwitz. "Man muss immer schauen, dass man die Kinder nicht überfordert. Ist der Druck zu hoch, kann das schnell nach hinten losgehen." Mit dem sehr individuell gestaltbaren Modell habe man im Sinzinger Hof schon gute Erfahrungen gemacht. Es gelinge überwiegend, die Kinder wieder schulfähig zu machen, sagt Hausdorf. Die meisten schafften am Ende sogar einen Schulabschluss, berichtet Lutschewitz - "trotz schlechter Prognosen".

Es gelinge überwiegend, die Kinder wieder schulfähig zu machen, berichtet Volker Hausdorf, Geschäftsbereichsleiter der Kinder- und Jugendhilfe bei der Diakonie München und Oberbayern. (Foto: Privat/oh)

Die Initiatoren gehen davon aus, dass die Wohngruppen in Wolfratshausen frühestens Ende des Jahres ihre Arbeit aufnehmen können. Der Antrag auf Nutzungsänderung liegt derzeit beim Kreisbauamt. Das Raumkonzept stehe bereits und könne von der Stiftung, die eine Baufirma im Hintergrund hat, rasch umgesetzt werden, sagt Hausdorf. Sowohl das Jugendamt des Landratsamts, als auch die Heimaufsicht bei der Regierung von Oberbayern hätten für die Genehmigung der Einrichtung bereits grünes Licht erteilt, sagt Lutschwitz. "Beide sehen großen Bedarf und freuen sich, dass wir kommen." Die Wartelisten für bestehende intensivpädagogische Gruppen seien lang, sagt die Leiterin der Jugendhilfe. Die Kinder für den Thannhof, die zum Großteil aus München kämen und alle psychiatrische Diagnosen hätten, könne man sofort vermitteln.

Das Personal muss jedoch noch akquiriert werden - sobald der Umbau genehmigt ist und die Erlaubnis der Heimaufsicht vorliegt. Gesucht werden Erzieherinnen und Erzieher, Sozialpädagogen, Heilerziehungspfleger. "Je multiprofessioneller das Team, umso interessanter", sagt Lutschewitz. Die Tätigkeit im Schichtsystem - im Tagesverlauf seien immer zwei pädagogische Kräfte anwesend, nachts eine in Bereitschaft - sei zwar fordernd, aber auch reizvoll. Schließlich sei eine so intensive Arbeit mit Kindern für Fachkräfte der Pädagogik, wo die Personalschlüssel meist deutlich größer seien, sonst nicht möglich. Zudem biete man regelmäßige Supervision, Weiterbildung und ein gutes Arbeitsumfeld, sagt Lutschewitz. "Es macht den Kollegen Spaß."

(Foto: SZ)

Den sollen auch die Kinder haben, die dann im Thannhof leben, zumindest immer wieder. Für sie gehe es vor allem darum, zur Ruhe zu kommen, ein Stückchen Normalität zu erleben, eine Art Zuhause zu finden und nicht weiter von Einrichtung zu Einrichtung herumgereicht zu werden, sagt Lutschewitz. Rückschläge, Trauer, Angst, Frust und Wut gebe es aber immer wieder, weiß sie. Eine Umgebung wie der einstige Bauernhof sei hilfreich, "weil die Kinder schon auch ihre eigenen Themen mitbringen und auch laut sind".

Damit sie sich im Garten austoben können, beabsichtigt die Diakonie Außenspielgeräte anzuschaffen, einen Balancierparcours, eine Nestschaukel und eine "Matschbaustelle". Und auch bei den Möbeln gibt es besondere Ansprüche, weiß Lutschewitz. "Bei der Kinderzimmerausstattung setzen wir auf solide Ware", sagt sie, "weil so ein Ikea-Zeug sofort kaputtgehen würde." Wie schon im Sinzinger Hof werde man die Möbel von der Schreinerei der Rummelsberger Werkstätten bei Nürnberg beziehen, die auch in der Jugendhilfe tätig ist. Deren Schränke seien zwar etwas teurer, aber eben auch solider. So ließen sich die Türen etwa im 180-Grad-Winkel öffnen statt nur bis 90 Grad, sagt Lutschwitz. "Da kann man schonmal dagegentreten, ohne dass gleich was kaputt ist."

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