Pflegekinder:Liebe statt Krise

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Kinder, die in Pflegefamilien unterkommen, haben oft Dinge erlebt, die sie noch lange prägen. (Foto: AndreyPopov/imago images/Panthermedia/oh)

Tilli lebt bei Familie Kurth, obwohl sie nicht die leibliche Tochter ist. Bei Pflegefamilien finden Kinder ein neues Zuhause, wenn ihre Eltern nicht für sie sorgen können. Das ist nicht immer einfach.

Von Quirin Hacker, Geretsried

Für Tilli ist es normal, zwei Mütter zu haben. Ihre "Bauchmama" Nina sieht sie nur manchmal, ihre Pflegemama Nicole jeden Tag. Als Kleinkind ist Tilli zu den Kurths gekommen und lebt seitdem mit Vater Dieter, Mutter Nicole und Johanna, die schon ein bisschen älter ist, in einem Einfamilienhaus, das die Kurths vor 20 Jahren am Geretsrieder Stadtrand gebaut haben. Tilli springt mit Johanna durchs Wohnzimmer. Ihre Mutter setzt sich mit einem Kaffee an den langen Tisch, über dem eine Designerlampe hängt. Flache Sonnenstrahlen fallen durch die Glastür vom Garten herein. Ein blickdichter Zaun umschließt den Rasen, auf dem ein Trampolin und ein Spielzeughaus aus buntem Plastik thronen.

Wie lange Tilli schon hier wohnt, soll nicht verraten werden, auch nicht, wie alt sie ist. Katrin Trinkl ist wichtig, dass Tillis Identität geschützt wird. Sie leitet beim Amt für Jugend und Familie Bad Tölz-Wolfratshausen den Fachdienst Pflegekinder. Tilli soll später keine Nachteile davon haben, dass ihre Geschichte einmal in der Zeitung erzählt wurde. Deshalb sind einige persönliche Angaben zu Tilli in diesem Text geändert. Gleiches gilt für Tillis leibliche Mutter, die hier Nina heißen soll. Sie hat das Sorgerecht für ihre Tochter und ist mit diesem Artikel einverstanden.

Nicole und Dieter Kurth haben sich entschieden, Pflegekinder aufzunehmen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Tilli setzt sich auf die Bank und kuschelt sich an ihre Pflegemama. Nicole hat ihre Tochter Johanna mit 36 bekommen. Nach dieser Schwangerschaft wollte sie nicht noch eine erleben, obwohl sie eigentlich gerne mehr Kinder gehabt hätte. Deshalb kam es für sie infrage, ein Pflegekind aufzunehmen, nachdem sie einen Aufruf in der Zeitung gelesen hatte. Das Amt für Jugend und Familie prüft vorab bei Gesprächen und Hausbesuchen, ob Pflegekinder in Familien kommen, die ein sicheres Umfeld bieten. Dafür brauchen angehende Pflegeeltern viel Offenheit.

Für Dieter Kurth war das kein Problem. Er hat an der anderen Seite des Tisches Platz genommen und erinnert sich daran, wie schwer die erste Zeit mit Tilli war. "Am ersten Morgen, den sie bei uns war, hat sie den Kühlschrank aufgemacht und wollte uns Frühstück zubereiten", erinnert er sich. "Sie war gerade erst ein Jahr alt." Da wurde ihm klar: Bevor Tilli zu ihnen kam, hat sie Dinge erlebt, die andere Kinder so nicht durchmachen.

"Bauchmama" Nina hat Tilli früh bekommen. "Über die Mutter lernt das Kind die Welt kennen", sagt Nils Köbel. Er ist Professor für Pädagogik an der katholischen Hochschule Mainz. In der 38. Folge seines Podcasts spricht er darüber, wie entscheidend die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist. Die Qualität der Bindung entscheide darüber, wie das Kind am Anfang seines Lebens die Welt wahrnehme. "Diese frühen Erfahrungen prägen unsere Vorstellungen, wie Beziehungen funktionieren", so der Pädagogik-Experte. "Was bedeuten Liebe, Verlust, Trennung, Freude, Wut und Schmerz?"

In Tillis emotionalem Rucksack steckt die Angst, verlassen zu werden

Genau wissen die Kurths nicht, was Tilli in ihrem ersten Jahr erlebt hat. Aber es hat Spuren hinterlassen, mit denen sie umgehen müssen. "Jedes Pflegekind kommt mit einem emotionalen Rucksack zu seiner neuen Familie", sagt Dieter Kurth. Das hätten sie aus den Lehrgängen mitgenommen, mit denen das Jugendamt angehende Pflegeeltern vorbereitet. Viele Pflegekinder seien verhaltensauffällig. "Der Aufwand für ein Pflegekind ist etwa doppelt so hoch wie für ein leibliches Kind", schätzt er. Die ersten eineinhalb Jahre habe Tilli nachts mehr geschrien als geschlafen. "Wir sind dann in den Garten gegangen und haben den Mond angeschaut", erinnert sich der Pflegevater. Drei Jahre habe es gedauert, bis Tilli Nähe zu ihm zugelassen habe. Nicole Kurth vermutet, das liege daran, dass es keine männlichen Vertrauenspersonen in ihrem Leben gab, bevor sie zu ihnen kam.

In Tillis emotionalem Rucksack steckt die Angst, verlassen zu werden. "Als wir Tilli anfangs in den Kindergarten gebracht haben, hat sie regelmäßig gefragt, ob wir wiederkommen." Tilli hat ein Buch, das sie immer wieder vorgelesen haben möchte, mit dem Titel "Flieg. Lela, flieg!" Darin geht es um einen Vogel, der sein Zuhause verlassen muss und nicht wieder zurückkehren kann. "Immer wenn ich ihr diese Seite vorlese, fängt Tilli an zu weinen", sagt Nicole Kurth. "Aber sie möchte dieses Buch ständig wieder lesen. Ich vermute, das ist für sie eine Art Traumabewältigung."

Tilli kommt wieder an den Tisch. Auf ihrem Arm steht mit schwarzem Filzstift "I love Johanna". Auch Johanna hat ein Tattoo, auf ihrem Arm steht "I love Tilli". Zwischen ihrer leiblichen und ihrer Pflegetochter mache sie keine Unterschiede, sagt Nicole Kurth. Mit Tilli müsse sie jedoch sensibler umgehen als mit Johanna.

Auf der Anrichte im Wohnzimmer steht ein kleiner Pokal. "Beste Pflegefamilie der Welt" ist darauf eingraviert. Den hat Familie Kurth von der leiblichen Familie eines Pflegekindes bekommen, das vor Tilli für knapp ein Jahr bei den Kurths war. Als es seiner Mutter besser ging, kam es wieder zu ihr.

Alle vier Wochen trifft Tilli ihre "Bauchmama"

Alle vier Wochen trifft Tilli ihre leibliche "Bauchmama" Nina. "Umgang" heißen diese Treffen in der Sprache des Amts für Jugend und Familie. Bei diesen Treffen ist auch die Pflegemutter anwesend. Ein gutes Verhältnis zur leiblichen Familie sei ihr wichtig, sagt Nicole Kurth. "Das Kind soll sich nicht entscheiden müssen." Auch wenn Nina ihre Tochter abseits der Umgangs-Termine sehen möchte, lässt sich Nicole Kurth darauf ein. Für ihre Tochter Johanna gibt es auch von Tillis leiblicher Familie Geschenke, wenn sie Geburtstag hat. Dieses freundschaftliche Verhältnis zwischen Pflege- und leiblicher Familie sei jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Diesen Eindruck haben die Kurths bei dem Stammtisch bekommen, bei denen sie sich mit anderen Pflegefamilien aus der Gegend austauschen.

Nicht zuletzt sind es Klassenunterschiede, die häufig zwischen Pflege- und leiblicher Familie stehen. Das merken auch die Kurths. Bei gemeinsamen Treffen wird deutlich, was die beiden Familien trennt. Zum Beispiel der Umgang mit Alkohol. Oder wie viel Platz die Bedürfnisse der Eltern einnehmen im Gegensatz zu der Aufmerksamkeit für das Kind. Tillis Oma legt viel Wert darauf, dass beide Familien zusammenhalten. Auf die Treffen mit ihrer leiblichen Familie kommt Tilli gut klar. Abschiedstränen gibt es nie. Das liege auch daran, dass sie die unterschiedlichen Werte beider Familien nicht zwischen sich stehen lassen, meint Nicole Kurth.

Das Landratsamt sucht Pflegeeltern

Im Landkreis gibt es laut Katrin Trinkl vom Amt für Jugend und Familie derzeit zwischen 60 und 80 Pflegekinder. Die meisten von ihnen seien dauerhaft in Familien untergebracht. Besonders für jüngere Kinder eigne sich dieses Modell. "Es wird immer schwieriger, geeignete Unterbringung zu finden", sagt die Leiterin des Fachdiensts Pflegekinder. Zudem sei das Personal in stationären Einrichtungen knapp. "Wir sind deshalb immer auf der Suche nach Familien, die bereit sind, Pflegekinder aufzunehmen."

Bei den Kurths funktioniert diese Lösung gut. Trotz der Herausforderungen überwiegen für Dieter und Nicole die schönen Momente mit ihrer zweiten Tochter. Inzwischen sind sie eine eingespielte Familie.

Weitere Informationen im Landratsamt unter amtjugendfamilie@lra-toelz.de oder telefonisch unter 08041/505 459.

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