Es ist eine stattliche Zahl von Lebensjahren, die sich in einem Nebenraum des Geretsrieder Gasthofs Geiger aufsummiert hat. Zehn Personen sitzen da zusammen, allesamt schon ergraute Häupter, ausnahmslos über 82, wie Werner Sebb versichert. Auch Sebb selbst gehört dieser Alterskategorie an, er organisiert die gesellige Runde schon seit 1987. Die Zahl der Gäste, die sich alle drei Jahre zum Klassentreffen versammeln, "der harte Kern", hat naturgemäß abgenommen, insbesondere während der Pandemie. So haben sich von 78 angeschriebenen ehemaligen Mitschülern nur noch deren zwölf zum Austausch von Erinnerungen angemeldet, gekommen sind dann die erwähnten zehn.
Aus mehreren Ecken der Republik sind sie angereist, unter anderem aus dem brandenburgischen Eisenhüttenstadt und aus dem Allgäu, und es gab ja auch einen besonderen Anlass. Denn Sebb, engagiertes Mitglied des Arbeitskreises Historisches Geretsried und Mitautor der "Geretsrieder Hefte", die sich detailliert mit der Entwicklung der Rüstungswerke im Wolfratshauser Forst und den Anfängen der Stadt nach dem Krieg befassen, ruft mit einer Jubiläumszahl die Entwicklung des Schulwesens in Erinnerung: Am 12. Januar 2023 jährte sich zum 75. Mal der Beginn des Unterrichtsbetriebs in der "Flüchtlingsklasse".
Die Schule übersiedelte damals von Wolfratshausen in das ehemalige Gästehaus der "Deutschen Sprengchemie" (DSC) , das bis dahin amerikanischen Soldaten als Unterkunft gedient hatte. Dort war ein ehemaliger Speisesaal notdürftig zu einem Unterrichtsraum umfunktioniert worden, im September 1946 erfolgte die Einschulung unter wenig komfortablen Umständen: 62 Abc-Schützen besuchten damals die einzige erste Klasse, die damit mehr als ausgelastet war. Lehrerin Maria Heinze musste sogar noch die Schulspeisung für die Kinder besorgen, wie Sebb erzählt. Die hohe Schülerquote wurde in einem Jahr sogar noch übertroffen, der Höchststand war durch viele Neuzugänge 1951 erreicht, als Stein ein Teil von Geretsried wurde. Im Lauf der Jahre durchliefen mehr als 134 Schülerinnen und Schüler die Klasse. Der größte Andrang musste in einem Jahr mit nicht weniger als 78 Kindern bewältigt werden.
Unterrichtet wurden Sebb zufolge Buben und Mädchen aus Familien, die zwischen April und Oktober 1946 im Lager Buchberg/Gartenberg eingetroffen waren, sie gehörten mithin überwiegend dem Geburtsjahrgang 1939/1940 an. Die älteren Jahrgänge wurden zum Teil in unterschiedlichen Klassen in Wolfratshausen betreut, die Mädchen bei den Schulschwestern gegenüber der Pfarrkirche St. Andreas, außerdem in Gelting und Beuerberg. Mit dem Umbau des ehemaligen DSC-Gästehauses erfolgte 1947 der Schritt in Richtung einer eigenen Geretsrieder Schule, die Arbeiten waren im Dezember 1947 beendet. Weil mangels Baumaterial zunächst die Schulmöbel fehlten, musste der Unterricht vorübergehend an Biertischen und Gasthausbänken erteilt werden. Die Heizung funktionierte nicht immer, sodass die Kinder im nahe gelegenen Wald Holz sammeln mussten. Eine Verbesserung der Zustände trat erst in den kommenden Monaten und Jahren ein. 1947 und 1948 wurde auch ein Kindergarten im heutigen kleinen Sitzungssaal des Rathauses eingerichtet.