Was haben die in Deutschland lebenden Muslime mit dem Holocaust zu tun? Das war eine der Fragen, die Gönül Yerli, Religionspädagogin und Vizedirektorin der Islamischen Gemeinde Penzberg, mit dem SZ-Journalisten und Juristen Ronen Steinke auf dem Podium des Wolfratshausener Erinnerungsortes Badehaus Waldram diskutierte. Steinke ist Autor des Buchs "Der Muslim und die Jüdin", das die abenteuerliche Geschichte des Arztes Mohammed Helmy schildert, der ein Mädchen vor den Nazis rettet und dafür sein Leben aufs Spiel setzt. Kaum vorstellbar, aber Deutschland zur Kaiserzeit und Weimarer Republik war ein Ort, an dem Christen, Juden und Muslime gut zusammenlebten und miteinander befreundet waren.
Deutschland buhlte aus geopolitischen Gründen geradezu um wohlhabende junge Männer aus Kairo, Damaskus oder Tunis. Steinke zeichnet das Bild einer kulturell vielfältigen Community mit mehreren Tausend Arabern in Berlin. Von Vorurteilen ihnen gegenüber keine Spur. Die Neuankömmlinge wurden aufs Herzlichste empfangen, der Orient stand hoch im Kurs, junge deutsche Frauen trugen Pluderhosen und 1923 wurde in Berlin die erste Moschee gebaut, deren Geschäftsführer sogar ein konvertierter Jude war.
Helmy war Ägypter, der zum Medizinstudium nach Deutschland kam. Als Muslim blieb er von den Verfolgungen der Nazis verschont. Als die Deportationen der Juden begannen, entschloss er sich zu handeln. Er gab die jüdische Tochter einer befreundeten Familie als seine Nichte aus und stellte sie als Arzthelferin in seiner Praxis an, dafür tarnte er sie mit einem muslimischen Kopftuch. Anna Boros überlebte und emigrierte nach New York, wo sie in den Achtzigerjahren starb.
Der mutige ägyptische Arzt wurde als erster Araber in Yad Vashem geehrt
Helmy war nicht allein. Als Teil eines arabischen Helfer-Netzwerks ermöglichte er weiteren Juden die Flucht in den Untergrund. Er ist 2013 von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als sogenannter "Gerechter unter den Völkern" ausgezeichnet worden. "Es war das erste Mal, dass ein Araber mit dieser Ehrung bedacht wurde", berichtete Steinke.
Doch die Brücken, die einst die Religionen verband, sind heute vielfach eingerissen, so groß sind die gegenseitigen Ressentiments seit dem Nahostkonflikt geworden. Im Zuge seiner Recherchen ist Steinke zu den Nachfahren von Helmy nach Kairo gefahren, die die Ehrung ausgeschlagen hatten. Umgekehrt zeigte sich auch, dass die Familie von Anna Boros mit Muslimen nichts zu tun haben will. "Ich war traurig und enttäuscht über diese Unfähigkeit, sich zu begegnen", sagte Steinke. Auch wenn er als Jude es sich heutzutage nicht trauen würde, hierzulande mit Davidstern oder Kippa durch Stadtviertel mit überwiegend muslimischer Bevölkerung zu gehen, habe er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich die Religionen wieder annähern würden.
Gönül Yerli, Jahrgang 1976, kam im Alter von drei Jahren mit ihren türkischen Eltern nach Deutschland. Der Holocaust sei für die hier lebenden Muslime kein Thema, räumte sie ein. "Die meisten haben diese Vergangenheit ausgeblendet, ihre Geschichte beginnt erst mit der Gastarbeitergeneration", sagte Yerli, die sich vehement für eine bessere Beziehung zwischen den Religionen starkmacht. Dass die Geschichte von Mohammed Helmy und der großen arabischen Community vor hundert Jahren in den heutigen Moscheegemeinden unbekannt sei, fand Ronen Steinke schade. Schließlich seien Muslime wie Helmy wertvolle Vorbilder, nicht nur wegen ihrer Zivilcourage, sondern auch, weil sie in der damaligen Gesellschaft eine ganz andere Rolle spielten als die späteren "Gastarbeiter". "Sie kamen im feinen Zwirn und nicht im Blaumann."
Yerli, die während ihrer Schulzeit nur das "Türkenmadl" genannt wurde und es mit Humor nimmt, wenn sie von unbedarften Zeitgenossen als "Islamistin" angeredet wird, betonte die Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen, gerade zwischen Judentum und Islam, deren kulturelle Rituale wie beim Essen "zu 90 Prozent identisch sind". Aber auch sie gestand ein, dass die Annäherung trotz aller Bemühungen schwer sei: "Es gibt da noch viel Scheu."