100 Jahre Walchenseekraftwerk:Ein Garant für grünen Strom

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Ein Meisterwerk der Technik und eine visionäre Pionierleistung ist das Walchenseekraftwerk, das vor 100 Jahren in Betrieb ging. (Foto: Angelika Warmuth/dpa)

Das Wasserkraftwerk, das von 2000 Arbeitern unter harten Bedingungen gebaut wurde und am 26. Januar 1924 in Betrieb ging, liefert durchschnittlich 300 Millionen Kilowattstunden im Jahr. Für die Energiewende ist die Anlage unverzichtbar, unter Umweltschützern eher umstritten.

Von Klaus Schieder, Kochel am See

Für die 2000 Arbeiter muss der Bau des Walchenseekraftwerks die Hölle gewesen sein. Viele von ihnen hatten gerade erst die Schrecken des Ersten Weltkriegs überlebt, sie waren arm und brauchten ein Einkommen. Pure Not trieb die meisten von ihnen ins Altjoch, aus der Oberpfalz, aus Deutschland, aus Österreich. Tagein, tagaus trieben sie Stollen in den Berg, oft nur mit Schaufeln und Spitzhacken, mit bloßer Muskelkraft. Die Holzgerüste boten ihnen dabei kaum Sicherheit, 17 von ihnen starben beim Bau. Die Baracken, in die sie nach ihrem schweren Tagwerk zurückkehrten, waren primitiv, die Verpflegung miserabel. Immer wieder gab es Streiks. Auch deshalb, weil die galoppierende Inflation die Löhne permanent drückte.

Aber damit nicht genug. Die einheimische Bevölkerung rund um den Kochelsee waren ihnen nicht gerade wohlgesonnen. Fremde waren sie für die Ortsansässigen, "Baraber" wurden sie genannt, halb verächtlich, halb ängstlich. Als das Kraftwerk endlich fertiggestellt war und genau vor 100 Jahren, am 26. Januar 1924, in Betrieb ging, gab es für die Arbeiter, die unter unvorstellbaren Bedingungen geschuftet hatten - nichts. Nicht einmal eine Feier. "Wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation", erklärt Theodorus Reumschüssel, Pressesprecher des Kraftwerksbetreibers Uniper.

Bis zu 2000 Arbeiter, die unter teils unvorstellbaren Bedingungen schuften mussten, errichteten das Walchenseekraftwerk. (Foto: Privat/oh)

Einfach hatten es indes auch die Planer und Bauleiter nicht. Ein Beispiel: Sechs Druckrohre von jeweils 400 Metern Länge sollten aus einem Montagewerk im Ruhrgebiet geliefert werden. Das war jedoch französisch besetzt, außerdem wurde in der Fabrik noch gestreikt. Das hatte zur Folge, dass die Rohre in Teilen von je acht Metern ankamen und vor Ort erst einmal vernietet werden mussten.

Auch sonst war der Bau des Kraftwerks mit logistischen Herausforderungen verbunden. Kochel hatte damals nur 1600 Einwohner, die Gegend war dünn besiedelt, es führten kaum Straßen irgendwohin. Turbinen, Generatoren, Rohre, Maschinensätze - all dies musste vom Bahnhof Kochel über ein eigens verlegtes Gleis an das Ufer des Kochelsees transportiert werden, von dort mit dem Schiff weiter zur Baustelle. "Man muss sehr dankbar sein für das, was sie hier geleistet haben", sagt Klaus Engels, Direktor Wasserkraft Deutschland bei Uniper. "Das waren mutige Leute."

Oskar von Miller, Gründer des Deutschen Museums und Wasserkraftpionier, war Projektleiter beim Bau des Walchenseekraftwerks. (Foto: Museum Fürstenfeldbruck/oh)

Die Idee, das Gefälle von rund 200 Metern zwischen dem Walchensee und dem Kochelsee für ein Speicherkraftwerk zu nutzen, stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals wurden die Trambahnen in München noch von Pferden gezogen, die Lampen und Straßenlaternen brannten mit Petroleum, die Elektrifizierung kam erst nach und nach. Vermutlich wären die Kraftwerkspläne in der Schublade verstaubt, hätte nicht Oskar von Miller dieses Projekt verfolgt, mit Sturheit, mit seinen politischen Kontakten, mit einer gewissen Schlitzohrigkeit, mit seiner ganzen barocken Persönlichkeit. Aber auch der Gründer des Deutschen Museums in München, der Wasserkraftpionier und Visionär hatte es damit schwer.

Turbinen, Rohre und Generatoren wurden mit der Bahn zum Kochelseeufer transportiert, von dort weiter mit dem Schiff zur Baustelle. (Foto: Uniper Kraftwerke GmbH/oh)

Denn gegen das Walchenseekraftwerk gab es eine ganze Menge Vorbehalte. Der Bau habe üblen Gestank zur Folge, hieß es etwa. Vor 100 Jahren gab es noch kein Klärwerk, Fäkalien wurden kurzerhand in die Isar geleitet. Die Befürchtung: Weil das Kraftwerk dem Fluss das Wasser entziehe, fließe dieser langsamer, die Gülle verdünne dann nicht mehr so schnell ... Fischer wiederum trieb die Angst um, der Pegel des Walchensees sinke so stark, dass sie ihren Beruf kaum noch ausüben könnten.

Der kurioseste Einwand: der Walchensee-Waller. Der Legende nach hält sich dieses Ungetüm von einem Fisch mit Augen so groß wie Feuerrädern in den Tiefen des Sees auf, würde sich aber aus Ärger über den Kraftwerksbau erheben, den Kesselberg mit seinem Schwanz zerschlagen und eine "Sündluft" bis nach München auslösen.

100 000 Besucher kommen pro Jahr im Schnitt ins Informationszentrum und besichtigen von dort aus die Kraftwerksanlage. (Foto: Harry Wolfsbauer)

"Es gab viel berechtigte und unberechtigte Kritik", sagt Engels. So hätten Sommerfrischler, aber auch Vermieter befürchtet, dass der Walchensee seinen Zauber durch das Kraftwerk verlieren könnte, weil der Pegel bis zu 16 Metern absinken werde, sagt Thomas Eberl, Zweiter Bürgermeister von Kochel. Wer heutzutage die Autokarawanen sieht, die sich sommers durch Kochel über den Kesselberg hinauf zum Walchensee winden, mag über diese Angst lächeln. Auch das Kraftwerk selbst ist seit Langem schon ein Publikumsmagnet, für Schulklassen, Familien, Firmen, Architekten, Prominente. Sogar der malaysische Sultan von Selangor fuhr einmal mit dem Rolls-Royce vor.

"Die Wasserkraft ist natürlich auch ein Umwelteingriff."

Andere Einwände von damals sind hingegen noch immer ernst zu nehmen. Etwa jener, dass der Bau die Alpenlandschaft verschandele. In der Tat sind die Eingriffe in die Natur teils erheblich. So kritisiert der Verein "Rettet die Isar" schon seit vielen Jahren, dass die Ableitung für das Walchenseekraftwerk der Isar viel Wasser entziehe, bis hinauf zum Sylvenstein. Mit den entsprechenden Folgen für Tiere und Pflanzen in und an der Isar. "Die Wasserkraft ist natürlich auch ein Umwelteingriff", sagt Engels. Uniper fühle sich verpflichtet, diese Eingriffe zu minimieren.

Für die Energieversorgung ist das Walchenseekraftwerk eine geradezu visionäre Pionierleistung. Mit einer Leistung von 124 Megawatt und einer Jahresenergie von durchschnittlich 300 Millionen Kilowattstunden - was dem Jahresverbrauch von rund 100 000 Haushalten entspricht - ist es noch heute eines der großen Speicherkraftwerke in Deutschland. Uniper-Sprecher Reumschüssel rechnet vor: "Insgesamt hat das Walchenseekraftwerk in den vergangenen hundert Jahren mindestens 30 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt und dadurch die Umwelt - bezogen auf die historischen Emissionen des deutschen Kraftwerksparks - um rund 24 Millionen Tonnen Kohlendioxid entlastet."

In den Zeiten der Energiewende kommen noch zwei weitere Vorteile hinzu. Zum einen wird der Strom teilweise für die Bahn erzeugt, das war schon von Anfang an so gedacht. Derzeit fließt ein Drittel der Produktion in die Deutsche Bahn. Damit sei das Wasserkraftwerk "ein Vorreiter der E-Mobilität", sagt Engels. Und zweitens: Da es sich um ein Spitzenlastkraftwerk handelt, kann es Schwankungen ausgleichen. Es reagiert auf Verbrauchsspitzen im Strombedarf, es kompensiert Ausfälle, wenn etwa Solaranlagen und Windräder phasenweise wenig Energie erzeugen.

Der Turbinenraum in der Maschinenhalle. (Foto: Manfred Neubauer)
Der Einbau der Generatoren bei der Errichtung des Walchenseekraftwerks. (Foto: Uniper Kraftwerke GmbH/oh)

Die gesamte Anlage ist längst ein Industriedenkmal. Dazu gehören die 1200 Meter langen unterirdischen Einlaufstollen vom Walchensee in das Wasserschloss, die sechs großen Druckrohre, die von dort hinab in die Maschinenhalle führen, das Transformatorenhaus. Und eben die Halle selbst: Mit ihren Säulen, Bögen, hohen Fenstern, vier Francis-Turbinen und vier Drehstromgeneratoren, vier Pelton-Turbinen und vier Einphasengeneratoren wirkt sie fast wie eine Kathedrale der Technik. All dies ist jedoch nur ein Teil des Systems Walchenseekraftwerk. Dazu zählen auch Stollen, Schleusen, Wehre und kleine Kraftwerke, die von der Grenze zu Tirol bis nach Wolfratshausen reichen.

In der Schaltzentrale des Kraftwerks. Die Anzahl der Beschäftigten wurde in den Neunzigerjahren stark reduziert. (Foto: Manfred Neubauer)

Vor dem großen Personalabbau in den Neunzigerjahren arbeiteten etwa 80 Beschäftigte im Walchenseekraftwerk. Damals gehörte es noch zur Bayernwerk AG. Nach der Privatisierung wechselten die Besitzer: erst VIAG, dann Eon-Wasserkraft, seit 2016 Uniper, das sich inzwischen zu 99 Prozent in Staatsbesitz befindet. Heutzutage sind in der Maschinenhalle nur wenige Mitarbeiter zu sehen. "Man darf nicht vergessen, dass Menschen über 100 Jahre hinweg das Kraftwerk in Schuss gehalten haben", sagt Engels. Und auch jetzt arbeiteten dort Kolleginnen und Kollegen, die moderne Segnungen der Arbeitswelt wie Vier-Tage-Woche oder Homeoffice nicht in Anspruch nähmen, um die Anlage sicher zu betreiben.

Die sogenannten Baraber wussten nicht einmal, was solche Begriffe bedeuten. Trotz zugiger Baracken, schlechten Essens und Gutscheinen statt Banknoten lieferten sie eine Qualität ab, die ihresgleichen sucht. Für den Kesselbergstollen verwendeten sie den damals neuen Spritzbeton. Alle zehn Jahre fährt ein Tauchboot durch den 1,2 Kilometer langen Schacht, der zehn Meter unter dem Wasserspiegel des Sees liegt, und prüft seinen Zustand. Bei der letzten Fahrt sei alles in Ordnung gewesen, erzählt Engels. Nach sage und schreibe 100 Jahren.

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