Alpentourismus:"Die Tölzer Richtlinien haben sehr viel angestoßen"

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Die Tölzer Hütte im Vorkarwendel wurde zwischen 1922 und 1928 errichtet und 2023 klimagerecht umgebaut (Foto: Andrea Rosin/DAV/oh)

1923 hat die Hauptversammlung des damaligen Alpenvereins in Bad Tölz Beschlüsse gefasst. Stadtarchivar Sebastian Lindmeyr erklärt, warum diese auch 100 Jahre später noch Maßstäbe setzen.

Interview von Celine Chorus, Bad Tölz

1923 tagte in Bad Tölz die Hauptversammlung des damaligen Deutschen und Österreichischen Alpenvereins. Am Ende verabschiedeten die Delegierten die "Tölzer Richtlinien": Zwölf Punkte, die definieren sollten, wie das Bergsteigen und die alpine Infrastruktur auszusehen haben. Im SZ-Interview erklärt Stadtarchivar Sebastian Lindmeyr, inwiefern die Beschlüsse bis heute von Bedeutung sind - und warum bei der Versammlung auch antisemitische Tendenzen zu Tage traten.

SZ: Herr Lindmeyr, vor 100 Jahren wurde in Bad Tölz über die Zukunft des Bergsports diskutiert. Was haben die Delegierten damals beschlossen?

Sebastian Lindmeyr: Es ging darum, den Bergsteiger in den Mittelpunkt zu rücken. So sollten Hütten zum Beispiel nur noch gebaut werden dürfen, wenn sie ein zweifelloses Bedürfnis befriedigen. Das war de facto eine starke Einschränkung des Hüttenbaus - und auf den Hütten sollte es auch nur ein einfaches Verpflegungsangebot und eine sehr schlichte Ausstattung geben.

Wie war bis dahin die Situation im Bergsport und auf den Hütten?

Nach dem Ersten Weltkrieg hat der Alpenverein ungefähr ein Viertel seiner Hütten verloren. Das war ein ziemlicher Schock und führte dazu, dass das Bergsteigen nationalistisch aufgeladen wurde: Durch die Reinheit und die klärende Kraft der Alpen sollte der deutsche Geist wieder gestärkt werden. Unmittelbar nach dem Krieg waren es rund 100 000 Besucher pro Jahr und innerhalb von fünf Jahren ist die Zahl auf eine halbe Million gestiegen. Es gab also einen enormen Ansturm auf die Hütten - und damit auch den Wunsch nach mehr Hütten, komfortabler Unterkunft und guter Verpflegung.

Was haben die Delegierten mit den Tölzer Richtlinien beabsichtigt?

Sie wollten die Nicht-Alpinisten abschrecken. Damals wurden Menschen, die auf die Hütten kamen, um sich ein gutes Essen und ein Federbett zu genehmigen, spöttisch "Hüttenbummler" genannt - und die wollte man nicht in den Bergen haben. Der Schriftsteller Walter Flaig, auch er ein Anhänger des sportlichen und spartanischen Bergsteigens, schreibt über ein Bergerlebnis in jenen Tagen: "Im Sommer 1920 kamen wir 5 Bergsteiger, alle schwer beladen, abends nach überaus mühsamen Marsch im Regen und Schneetreiben auf eine Hütte in der Silvretta. Die Hütte war voll besetzt und zwar machte etwa ein Dutzend sog. Bergsteiger - ein Sektionstrupp aus einer schwäbischen Kleinstadt - den Hauptteil aus. Diese saßen in 3-4 Gruppen kartenspielend und weintrinkend umher, nächst dem warmen Ofen. ... Man machte keine Miene, uns, die wir müde und durchnäßt waren, Platz zu machen. Ein junger Mann trat endlich sein Bett an die zwei Frauen in unserer Begleitung ab. Wir Männer lagen auf Tisch und Bank, die halbbetrunkenen Schmerbäuche in den Betten, um ihren Rausch auszuschlafen. ... Brauchts da noch einen Zusatz, noch ein Wort für das Alkoholverbot und Abschaffung der Federbetten?!"

Sebastian Lindmeyr, Stadtarchivar von Bad Tölz, hat sich intensiv mit der Versammlung von 1923 beschäftigt. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Bei der Versammlung in Bad Tölz zeigten sich aber auch antisemitische Tendenzen.

Nach dem Ersten Weltkrieg gab es Bestrebungen, Juden aus dem Alpenverein auszuschließen. Viele jüdische Bergsteiger waren in der Sektion Donauland organisiert, die 1921 als Reaktion auf ihren Ausschluss aus der Sektion Austria gegründet wurde. Völkische Alpenvereinsfunktionäre wollten sie aber auch aus dem Hauptverein haben und machten in Bad Tölz massiven Druck. 1924 ist es ihnen dann gelungen, diese Sektion aus dem Alpenverein auszuschließen.

1923 war das Ansinnen, Juden aus dem Alpenverein zu verbannen, noch gescheitert.

Wenn man sich die Zahlen anschaut, erhielt der Vorschlag in Bad Tölz erstmals eine einfache Mehrheit. Von den gut 1500 Stimmen war über die Hälfte für den Ausschluss der Sektion Donauland und die Einführung eines Arierparagraphen. Es war aber eine Zwei-Drittel-Mehrheit vorgeschrieben, von daher kam der Ausschluss in Bad Tölz noch nicht zum Tragen.

Welchen Einfluss hatten die Tölzer Richtlinien?

Der Alpenverein hatte damals knapp 250 Hütten und als 1977 ein Baustopp eintrat, waren es schon über 600. Ein Historiker hat sich das einmal genauer angeschaut: Der Hüttenbau hat sich von den Tölzer Richtlinien überhaupt nicht beeinflussen lassen. Wenn die wirtschaftliche Lage etwas stabiler war und man ein bisschen Geld übrig hatte, wurden sofort wieder Hütten gebaut.

Die Tölzer Richtlinien werden trotzdem oft als Wendepunkt tituliert. Gibt es Regelungen, die bis heute gelten?

Zum Beispiel die Hüttenruhe um 22 Uhr, auch am günstigen Essen für Bergsteiger und dem Recht, mitgebrachte Sachen aufzuwärmen, hat sich in all den Jahren nichts geändert. Die Tölzer Richtlinien haben aber auch sonst sehr viel angestoßen: Es wurde beispielsweise der AV-Schlüssel für Winterräume eingeführt. Das heißt, dass man als Bergsteiger auch abseits der Hüttensaison eine Unterkunft findet. Im Jahr 1927 wurde außerdem der Naturschutz in die Alpenvereinssatzung aufgenommen. Die Tölzer Richtlinien haben also einige Standards gesetzt, auf deren Basis bis heute diskutiert wird.

Inwiefern kann man sich von den Tölzer Richtlinien auch etwas für die Zukunft abschauen?

Manche Sachen sind natürlich nicht mehr relevant, aber gerade der Naturschutz ist es in Zeiten des Klimawandels immer noch. Wenn die Tölzer Richtlinien etwas bewirkt haben, dann ist es, die Begrenztheit des Alpenraums aufzuzeigen.

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